Ich war gerade im Iran …
»Ich war gerade im Iran«, sagt die Dolmetscherin in der Österreich Bibliothek in Poznań, nachdem sie sich vorgestelltund mitgeteilt hat, daß sie die Diskussion nach der Lesung aus meinem Roman Žižek in Teheran aus dem Deutschen ins Polnische übersetzen wird, »ich war gerade imIran und habeein Geschenk für Sie.« Und noch bevor ich meiner Verwirrung Ausdruck geben und die vielen Fragen, die mir in Sekundenschnelle durch den Kopf schießen, stellen kann (»Warum waren Sie im Iran? Beruflich? Aber Sie sind Polnisch-Deutsch-Übersetzerin, das hat doch mit dem Iran nichts zu tun – also touristisch? Aber jetzt, da eine revolutionäre Protestwelle über das Land rollt, die das Regime brutal zu unterdrücken versucht (auf den Straßen wird geschossen, es gab schon hunderte Tote)? Und ein Geschenk? Für mich?«), noch bevor ich also den Mund aufmachen kann, legt sie mir ein kleines, rechteckiges Ding in die Hand, ein Fruchtzuckerl, wie man in Wien sagen würde, mit Pfirsichgeschmack (in Deutschland sagt man Fruchtbonbon, glaube ich), auf das jemand mit einer Heftklammer einen schmalen rosaroten Streifen Papier befestigt hat, mit einer kleinen handgeschriebenen Aufschrift – auf Persisch.
Ich bedanke mich höflichst und freundlichst, während ich versuche, in dem Halbdunkel, in dem wir uns befinden, die kleine persische Schrift zu entziffern, da legt sich eine Hand auf meine linke und gleich darauf eine zweite auf meine rechte Schulter. Aleksandra Wiśniewska und Anna Szewczuk, die beiden für die Österreich Bibliothek zuständigen Damen, weisen mich sanft, aber mit Bestimmtheitdarauf hin, daß wir mit der Lesung beginnen sollten.
Während der wunderbaren Einleitung der Germanistikprofessorin Beate Sommerfeld und der Lesung aus meinem Roman, der unter anderem von Fragmenten einer geheimnisvollen Schrift handelt, die in der halbfiktiven »Islamischen Republik Teheran« kursieren und deren Lektüre bei empfänglichen männlichen Lesern zu einer magischen »Verweiblichung« führt(in weiterer Folge kommt es zu einer Revolution der Frauen gegen ebendiese Islamische Republik), muß ich ständig an die kleine, geheimnisvolle Schrift auf dem rosa Papierstreifen denken, die ich im Halbdunkel nicht zu entziffern vermochte.
Nach der Lesung will ich mich an die Dolmetscherin wenden, um mich für die perfekte Übersetzung (daß ich, obwohl des Polnischen unkundig, glaube, die Qualität der Übersetzung beurteilen zu können, wundert mich selbst. Es liegt wohl an der Promptheit, mit der die Übersetzung den Fragen und den Antworten folgt, und der Souveränität, die die Dolmetscherin ausstrahlt) und für das Fruchtzuckerl zu bedanken und um endlich herauszubekommen, was sie ausgerechnet jetzt, ausgerechnet in den Iran geführt haben mag, und beginnein den Seiten- und in den Brusttaschen meines Sakkossowie in den Hosentaschen,wo ichdas Fruchtzuckerl in der Hitze des Gefechts vermutlich hingesteckt habe, zu wühlen. Aber die Dolmetscherin ist in der Menge verschwunden.
Aus dem Halbdunkel der Publikumszone tritt jetzteine junge polnische Studentin der Germanistik heraus und fragt in akzentfreiem Deutsch, wie denn die Fragmente jener magischen Schrift, von denen im Roman die Rede ist, den Weg zu den empfänglichen männlichen Lesern finden. Das ist eine Frage, die ich nicht ohne Nachdenken zu beantworten vermag, habe ich doch achteinhalb Jahre an Žižek in Teheran geschrieben, dessen Publikation anderthalb Jahre zurückliegt, so daß ich viele Details schon wieder vergessen habe. Beim Nachdenken ertaste ich in meiner linken Hosentasche das Fruchzuckerl, ziehe es heraus und präsentiere es – einem Impuls folgend – der Studentin.
»Zum Beispiel so.«
Wir beugen uns über die persische Schrift auf dem rosa Papierstreifen, die ich im helleren Licht der Podiumszone endlich zu entziffern vermag und spontan ins Deutsche übersetze:
»Dein Haar ist schön, dein Mut ist noch schöner.«
Die Studentin schaut mich perplex an, ich selbst bin nicht minder verwirrt – da taucht die Dolmetscherin wie aus dem Nichts wieder auf, sieht das Fruchtzuckerl in meiner Hand, zückt ihr Smartphone und zeigt uns Bilder, die sie im schönen Isfahan, dem Florenz des Iran, zusammen mit zahlreichen Iranerinnen zeigen. Weder die Iranerinnen noch die Dolmetscherin tragen ein Kopftuch. Solche auf Fruchtzuckerln geheftete Parolen, so die Dolmetscherin, würden im Iran in großer Zahl produziert, um den Frauen, die es wagen, ohne Kopftuch in der Öffentlichkeit zu erscheinen und so ein Zeichen gegen das frauenfeindliche islamische Regime zu setzen, Mut zu machen. Sagt es undverschwindetwieder im Halbdunkel.
Später, beim Abendessen mit Aleksandra Wiśniewska, Anna Szewczuk und Beate Sommerfeld in der von Jugendlichen übervölkerten Pizzeria in der Altstadt, fehlt die Dolmetscherin. Keine der Anwesenden kennt sie und weiß, was sie ausgerechnet jetzt, ausgerechnet in den Iran geführt haben mag.
Sama Maanis Lesereise durch Polen mit den Stationen Kraków, Rzeszów und Poznań fand im November 2022 statt. In der Österreich Bibliothek in Poznań trat er am 16. November auf.