Achtung, Türen schließen
»Ich bin halbe Russin«, antwortete ich früher automatisch, wenn ich, auf Grund meines Vornamens gefragt wurde, ob ich russische Wurzeln hätte. Bis mir irgendwann dämmerte, wie unsinnig diese meine Standardantwort war. Was heißt schon halbe Russin? Wie kann man sich das vorstellen, die linke Körperhälfte russisch, der Rest nicht-russisch? Oder bis zur Taille russisch und weiter nicht? Was ist an mir russisch? – die Augen jedenfalls nicht, sie sind dunkelbraun und ich habe sie eindeutig von meinem bosnischen Vater geerbt. Meine hohen Wangenknochen sind da schon eher als russisch zu bezeichnen, und meine zu Sommersprossen neigende helle Haut könnte man wohl ebenfalls als typisch russisch bezeichnen. Und dass ich oft, sobald ich im Zug meinen Kopf gegen die Fensterscheibe lehne und die an mir vorüber gleitenden Landschaften betrachte, einen unwiderstehlichen Drang verspüre, aus den Untiefen meiner russischen Seele heraus melancholische russische Romanzen zu summen, ist wohl ebenfalls ein russischer Zug an mir. Mein russischer Zug aus dem russischen Zug, sozusagen, denn diese klassische Konditionierung (Zugfahren = Singen) stammt aus den achtziger Jahren, als ich mit meiner Mutter Zugreisen unternahm, von meiner Geburtsstadt Sarajevo nach Moskau, in ihre Geburtsstadt, und retour. Während dieser unvergesslichen Fahrten tranken wir schwarzen Tee aus Gläsern in kunstvollen Metallfassungen und sangen stundenlang russische Lieder – und gingen vermutlich den anderen Fahrtgästen mächtig auf die Nerven, oder aber sie sangen bereitwillig mit – ich weiß es wirklich nicht mehr.
Als »halbe Russin« bezeichne ich mich nicht mehr, und auch sonst fehlt mir ein passendes Etikett für meine Herkunft, es ist eben kompliziert. Aber der Grund, warum ich im Februar 2022 nach Moskau kam, hatte damit zu tun, dass ich als österreichische Autorin eingeladen wurde, mit Deutsch-Studenten über meinen Roman zu sprechen, der im Übrigen von einer Russisch-Dolmetscherin handelt. Die Reise musste auf Grund der Corona-Pandemie mehrfach verschoben werden, und als ich schon nicht mehr daran glaubte, dass sie jemals stattfinden würde, fiel sie schließlich in die schicksalhafte Februarwoche, vom 22. bis 28. Februar, sodass ich den historischen 24. Februar 2022 ausgerechnet in Moskau erlebte, mit dem Hotelzimmerblick direkt auf das imposante Gebäude des Russischen Außenministeriums. Die Gefühle und Gedanken am Vorabend des 24. Februar und am Tag selbst und in den Tagen danach zu beschreiben – dafür fehlt mir hier der Platz, aber auch die Worte. Die Sprach- und Fassungslosigkeit angesichts des Krieges ist überwältigend und könnte doch ganze Bücher füllen. Moskau habe ich an diesem 24. Februar als gespenstisch in Erinnerung. Im Zentrum überall Absperrungen und erhöhte Polizeipräsenz. Ein junger ukrainischer Verkäufer in einem Souvernirgeschäft brach mitten unter den vielen verschiedenen, bunten Matrjoschkas spontan in Tränen aus, und auch ich konnte meine kaum zurückhalten. Das betretene, beklemmende Schweigen der Kolleginnen an der Universität. Aber wie gesagt, es würde den Rahmen sprengen, hier über den 24. Februar schreiben zu wollen, oder, besser gesagt, es würde dem Thema nicht gerecht werden.
Für mich ist Moskau in jeder Hinsicht nicht zu fassen. Diese Stadt ist der pure Wahnsinn, von einer überwältigenden Schönheit und auch sonst überwältigend, in jedem Aspekt, den man sich vorstellen und nicht vorstellen kann. In meiner Kindheit in Sarajevo war Moskau (Moskva, sagten wir, während Mama es anders aussprach, »Maskvá!«) diese ferne, mysteriöse Stadt, aus der die nächtlichen Anrufe unserer Verwandten kamen, da es damals billiger war, in der Nacht zu telefonieren. Zu Neujahr kam der Anruf aus Moskau zwei Stunden vor Mitternacht, wegen des Zeitunterschieds. Da waren Babuschka und Deduschka und Onkel Aljoscha schon im neuen Jahr, während wir in Jugoslawien vor dem Fernsehapparat noch ungeduldig darauf warteten, dass es Mitternacht wurde. In mir war dann das Bild, dass meine russischen Verwandten uns voraus sind, dass sie irgendwohin unterwegs sind, wo wir sie niemals einholen können.
Die bürokratische Prozedur, um ein russisches Visum zu erhalten, war übrigens damals wie heute abschreckend und kompliziert, sodass Moskau in meiner Wahrnehmung immer schon ein rätselhafter und schwer zugänglicher Ort war. Das Moskau, das ich als Kind kennengelernt hatte, hat mit dem heutigen Moskau wenig gemeinsam. In der typisch sowjetischen Wohnung meiner Großeltern in einem typisch sowjetischen Hochhaus an der Metro-Station Krassnogwardejskaja bin ich nun schon lange nicht mehr gewesen, da meine russischen Großeltern nicht mehr leben, ich habe aber lebhafte Erinnerungen daran, weiß noch ganz genau, welche Lichtverhältnisse dort herrschten, wie der Boden quietschte, wie es dort roch, wie die Tapeten aussahen; wie Mama und ihr Bruder in der Küche stundenlang spätnachts miteinander stritten, um dann abrupt damit aufzuhören und sich wieder ganz normal miteinander zu unterhalten, als ob nichts passiert wäre.
Auch bei diesem letzten Besuch in Moskau spürte ich auf Schritt und Tritt, was für einen großen Eindruck diese Stadt auf mich als Kind gemacht hatte, obwohl ich nicht viel Zeit dort verbracht hatte – die Anreise von Sarajevo aus war umständlich, es waren ganz andere Zeiten; man flog damals nicht einfach schnell mal für ein paar Tage nach Moskau.
Die Tage auf der Datscha, etwas außerhalb von Moskau, sind mir unvergesslich. Auf der Datscha (und nicht etwa am Meer!) entdeckte ich, dass man im nassen Sand Gesichter und andere Figuren formen konnte, und lernte dank meines Onkels Aljoscha Radfahren. Ich sehe es noch genau vor mir, wie er mich bei meinen ersten Runden am Rad hinten am Sitz festhielt, jedenfalls dachte ich das, und als ich dann am Schatten auf dem Beton erkannte, dass er mich ja gar nicht festhielt, sondern ich schon frei fahren konnte, fiel ich sofort um, vor lauter Schreck.
Mein Blick auf Moskau ist immer ein doppelter – ich sehe das, was ich gerade sehe, aber ich kann mich parallel dazu nicht der Erinnerungen erwehren, die wie Blitze auftauchen, kleine Szenen aus der Kindheit, kurze Dialoge, Bilder und Gerüche, die sich in mein Gedächtnis eingebrannt haben. Der Buchweizenbrei, »gretschka,« den meine Babuschka zubereitete, ihre gedünsteten Zucchini, »kabatschki«, die so seltsam schmeckten, weil die Russen ein anderes Speiseöl verwendeten als wir. Das Speiseeis aus dem Geschäft, »Plombir«, das so aussah wie ein Stück Butter, und das mein Deduschka Wanja für meine beiden Schwestern und mich an unserer strengen Babuschka, die mit gebrochenem Fuß im Bett lag, vorbeischmuggelte. Das alles mag jetzt idyllischer klingen, als es war. In Moskau zu sein war damals in den Achtzigern immer auch eine unheimliche Sache. In der Metro hatte ich als Kind große Angst; ich stellte mir vor, die fest zuschlagenden Türen könnten mir einen Arm abhacken, wenn ich unvorsichtig wäre («Осторожно, двери закрываются… Следующая станция – …» / »Achtung, Türen schließen… Nächste Station…«) oder ich könnte für immer im riesigen, museumartigen Metro-Netz verloren gehen, wenn ich auch nur für eine Sekunde die Hand meiner Mutter losließ (einmal hatte ich in Sarajevo am Markt meine Eltern aus den Augen verloren, oder sie mich, und fürchterliche Ängste ausgestanden, bis wir wieder zueinanderfanden; ich stellte mir vor, in der Moskauer Metro würde mich eben kein Mensch jemals wiederfinden, ich würde in der Menge verlorengehen, für immer…). Ich verstand das Russische damals nicht so gut, denn nicht alle sprachen Russisch so wie meine Mama, alles schien größer und komplizierter und seriöser als zu Hause in Sarajevo, und auch meine russischen Verwandten wirkten auf mich ganz anders als meine jugoslawischen Verwandten: strenger, unnahbarer, ernsthafter, weniger kumpelhaft, mehr erzieherisch. Nach der Rückkehr aus Moskau nahm sich Sarajevo dann klein aus, gemütlich, bunt, sonnendurchflutet, voller Schmäh. Всё познается в сравнении, sagen die Russen, alles erkennt man im Vergleich.
Schön und unheimlich, und unheimlich schön, so war für mich Moskau in den Achtzigern. Heute ist für mich Moskau darüber hinaus auch aufregend, interessant, stimulierend. Die Österreich-Lektorin Hanna Daliot, der ich die Einladung nach Moskau zu verdanken habe, brachte mich auch in die MGU, die Moskauer Staatliche Universität, die berühmte Lomonossow-Universität, an der meine Eltern sich Anfang der siebziger Jahre kennengelernt hatten. Endlich hatte ich ein Bild zu den einschlägigen Erzählungen meiner Mutter. Und was für ein Bild es war. Ein Gebäude wie ein sowjetischer Marmorpalast. Und schon wieder die gleiche Ambivalenz: atemberaubende Schönheit und Erhabenheit, zugleich ehrfurchteinflößende Strenge auf Schritt und Tritt.
Bei diesem Besuch in Moskau entdeckte ich auch etwas ganz Neues für mich, das keinerlei Kindheitserinnerungen oder Familienerzählungen wachrief: Die russisch Banja. Eine Professorin, Tatjana, war so freundlich, mich zum Schwimmen im offenen Becken und Saunieren mitzunehmen. Wie sehr unterscheidet sich die russische Banja von der Sauna, wie ich sie in Wien kenne! Die Russen sitzen, zwar in Badeanzügen, jedoch völlig zwanglos eng beisammen und unterhalten sich lautstark und leidenschaftlich. Kein Mensch sagt dem anderen, was er tun und lassen soll. Tatjana erzählte mir, dass die Menschen in der Banja wie eine Banja-Familie funktionierten, dass im Laufe der regelmäßigen Treffen Freundschaften und Feindschaften entstanden waren. Ich hatte das Gefühl, ich müsste nur am nächsten Tag wiederkommen, dann wäre auch ich ohne weitere Umstände in den Verband aufgenommen worden – mit allem, was dazugehört. Das war allerdings nicht mehr möglich, denn ich hatte schon am nächsten Tag meinen Rückflug. Ich hatte übrigens Glück, es war der letzte mögliche Flug nach Wien, denn schon am Tag darauf waren die Luftverbindungen von Russland ins Ausland gekappt.