Wochenende in Wrocław
Ich träume von einer neuen Erzählweise (…), eine, die mehr sieht und eine weitere Sicht hat, und die durch die Zeit gehen kann.
Olga Tokarczuk
Entlang der Bahnstrecke in Tschechien sind die massiven Verwüstungen des letzten großen Unwetters nicht mehr auszumachen, dafür erstreckt sich nun über Kilometer der Bau einer neuen Straße; zu sehen sind Erdaushubarbeiten, Betonbrücken, die wie römische Artefakte in der Landschaft thronen und erste Teilstreckenasphaltierungen. Im Speisewagen der polnischen Bahn stehen die obligaten Pierogi auf dem Programm. Die PKP lässt nunmehr offensichtlich auf Sparflamme kochen, das Gericht kommt aus der Mikrowelle.
Ein längerer Zwischenaufenthalt in Katowice führt uns ins bahnhofangeschlossene Einkaufszentrum, in dem das Hinweisschild Pokoj Wyciszenia – Katowiczka dla Autyzmu (»Ruheraum – Katowice für Autismus«) unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Eine großartige Idee, dieser Ort der Stille, eine Non-Konsumismus-Zone samt Reduktion der Sinneseindrücke. Das könnte durchaus auch in österreichischen, dem luxuriösen Shoppingwahn gewidmeten Gebäuden Schule machen. Was für eine Freude der Kontemplation etwa, so ein besinnlicher Lamarr-Gedächtnis-Ruheraum auf der turbulenten Mariahilferstraße!
Auf dem historischen Bahnhof in Wrocław erwartet man uns bereits; die Fahrt führt zum Hotel am Ufer der Oder. Aus dem Zimmer im 5. Stock fällt der Blick auf den Fluss, – der jüngst von einer der größten Umweltkatastrophen der letzten Zeit und massenhaftem Fischsterben betroffen war –, auf den Altstadtarchipel und die nächtlich beleuchtete Universität.
Auf dem Flur des Hotels zeigen historische Aufnahmen den Großen Ring, den mittelalterlichen Marktplatz; über den Geschäftsportalen auch viele Schilder jüdischer Geschäfte. Heute befindet sich auf dem Platz unter anderem der »Information point for migrants«; ukrainische Nationalfarben wirken als optische Erkennungsmarker.
Feniks dom handlowy: Das alte Kaufhaus am Großen Ring, exponiert und doch abseits jeder Aufmerksamkeit der Touristenströme, ist heute wider Willen zum Handelsmuseum geworden. Die Fassade und das Treppenhaus erzählen von besseren Tagen, von Zeiten fernab des austauschbaren Agglomerats von globalen Multis in durchdesignten Shoppingmalls. Sorgfältig bekleidete Mannequins, platziert auf Holzpodesten, stehen wie in einer Schausammlung hinter Absperrkordeln. Nowa Kolekcja! Kostüme, Hüte, Schals und Strickwesten in gedeckten Farben. Das Ambiente ist aus der Zeit gefallen. Flashback, Polen 1980; Ersatz. In einer Ecke hängt ein Parabolspiegel zur Überwachung der Hartschalenkofferkollektion. Kein wohlfeiles Musikgedudel, stattdessen irritierend-aseptische Stille – nur die Dame an der Kassa hustet leise.
Auch das Burger King-Lokal im ersten Stock erzählt – historisch authentisch – düster von Zeiten, in denen es einst als fleischgewordene Verheißung westlichen Lifestyles eröffnet worden war.
Von den kargen Überresten des barocken Palais Hatzfeld, dessen brutaler Betonvorbau eingerüstet ist, ziehen sich Taubennetze über Stuckversatzstücke, die auf einer Backsteinmauer montiert sind. Derzeit befindet sich in dem Bau, samt Portal, das den Charme eines kommunistischen Parteilokals atmet, noch eine Galerie. Ein altes PVC-Plakat hängt von der Stahllamellen-Glas-Fassade. Wie man härt, soll ein Investor planen, das ehemalige Palais zu einem Luxushotel umzubauen.
Überall in der Stadt verteilt stehen kleine, metallene Zwerge in verschiedenen Erscheinungsformen und Posen. Zunächst als bronzene Touristenattraktion abgetan, entpuppt sich deren Ursprung als ehemalige Aktion von Kunsthochschulstudenten Anfang der 2000er Jahre, die auf das Zwergenhaft-Widerständige und darauf basierende politisch-subversive Aktionen der einstigen Opposition verweist.
Auf mehreren Laternenmasten in der Altstadt findet sich ein runder Sticker: »Students for Future. Chemnitz«. Er zeigt die Welt ganz in Grün.
Abends steht im Rahmen des Festivalu Opowiadania, eingebettet in einen allpolnischen Lese- und Performanceabend, mein Auftritt im Concordia Design Wrocław auf der Słodowa Insel auf dem Programm. Ich stelle meinen dystopischen Roman »Dardanella« vor, atmosphärisch ergänzt durch musikalische Einspielungen, und diskutiere mit den Besucher:innen über mein Buch »Der parfümierte Mann«, über Gender und Parfüm. Dazu gibt es Riechkostproben meiner neuesten Parfumkompositionen; persönliche Begegnungen, freudvolle Gespräche. Das Publikum ist sinnlich begeistert.
Zwischenzeitlich feiert die Jugend bereits auf der Insel. Ein Betrunkener ist zur Hälfte aus seinem Rollstuhl gekippt. Ein anderer liegt zu seinen Füßen. Ein paar Menschen suchen in Müllbehältern nach weiter Verwertbarem.
Am nächsten Morgen besuchen wir die Hala Targowa, die Markthalle, in der sich Obst, Gemüse, Kunstblumen, Wurstvitrinen, bunte Strumpfhosen aufgezogen auf Puppenbeinen finden, ganz wie anno dazumal. (Der Claim auf einem Plakat, das eine laszive Nackte in Spitzenunterwäsche zeigt, verkündet: »I‘ll be your sexy gift«).
Wir entschließen uns zu einer Bootsfahrt auf der Oder, gemeinsam mit einer Gruppe auffällig einheitlich dunkel gekleideter Briten, die mit ihren schwarzen Sneakers und Martens, Jeans, Hemden und Lederjacken – und der zwischen ihnen fühlbar vibrierenden Stille – gar nichts anders sein können als eine Band auf Tour. (Und tatsächlich spielen die Musiker von 13th Chime, die in den 1980er Jahren als vielversprechende Gothic-Pioniere galten, am selben Abend an einem Veranstaltungsort, der einen Namen auf der Höhe der Zeit trägt: Centrum Reanimacji Kultury.)
Langsam schippern wir übers Wasser, rechts und links zieht die Stadt an uns vorbei. Über dem Container des Kajaki Cafe, auf dessen Dach Paddelboote montiert sind, wirbt ein riesenhaftes Mural auf einer Feuermauer für WIELKA WODA – die Miniserie »Hochwasser« auf Netflix, in der es um die »Jahrtausendflut« geht, die im Jahr 1997 Wrocław unter Wasser gesetzt hat.
Der Kahn tuckert weiter durch Seitenarme des Flusses, unter Brücken hindurch; von der Technischen Universität auf der einen Seite des Ufers zu den Gebäuden auf der anderen Seite führt die Polinka, eine Gondelbahn, deren Strecke kaum 400 Meter lang ist.
Am nächsten Abend findet dann im Institut für Jüdische Studien der Universität Wrocław eine Performance statt. Es riecht nach nassem, am Steinboden des alten Gebäudes aufgebrachtem Laub, eine Sängerin schreitet durch die violett ausgeleuchteten Gänge. Sie singt mit Pathos und dünner Stimme Händels überstrapazierte Arie Lascia ch´io pianga. (»Lass mich mit Tränen mein Los beklagen, Ketten zu tragen, welch hartes Geschick (…) Ach, nur im Tode finde ich Erbarmen…«)
Ein Raum des Instituts ist der israelisch-britischen Gelehrten Ada Rapoport-Albert (1945-2020), ehemals Professorin am Department für Hebräische und Jüdische Studien an der UCL, gewidmet. Die große Porträtfotografie am Flur des Instituts zeigt eine attraktive Frau, die mit ihrem langen Haar und dem bestimmten Blick ein wenig an Susan Sontag erinnert. Der Nachlass von Rapoport-Albert bereichert die Bestände der Instituts-Bibliothek; rare Judaica, antiquarische Bände zu jüdischer Mystik, Sefardentum, Chassidismus et al.
Nebenan lädt ein großer, gemütlicher Lesesaal und Gemeinschaftsraum mit hellgrüngepolsterten Stühlen, Tischen und Leselampen zum Studieren, Verweilen und zum Austausch ein. Aktuell hätte das Institut 30 Student:innen, sagt man uns. Es ist ein Ort, der auf wundersame Weise aus der Zeit des Massenbetriebs und der universitären Ausbildungseffizienz gefallen zu sein scheint.
Es empfiehlt sich im Übrigen etwaige Grußpostkarten gleich auf dem Hauptpostamt am Großen Ring aufzugeben. Denn in ganz Wrocław, einer Stadt, in der es dereinst 10 private Anbieter für die Zustellung von Postsendungen gegeben hat, finden sich – selbst am Hauptbahnhof – keine Briefkästen mehr. Das Zeitalter der analogen, handgeschriebenen Nachricht scheint endgültig der Vergangenheit anzugehören.
Paul Divjak war am 7. Oktober 2022 beim Short Story Festival (Festiwal Opowiadania) in Wrocław zu Gast, organisiert von der Towarzystwo Aktywnej Komunikacji (Gesellschaft für Aktive Kommunikation) sowie dem Österreichischen Kulturforum Warschau.