Wie oft bin ich in Bukarest gewesen? Ich weiß es nicht zu sagen. Ein Jahr lang habe ich als Zivildiener in Rumänien gelebt, und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr Anlässe fallen mir ein, die mich in die Hauptstadt geführt haben.
Wann immer ich an Bukarest denke, sehe ich mich an einer Straßenkreuzung in der Nähe des Zentrums stehen. Leute überqueren die Straße in beiden Richtungen, ich bin noch nicht losgegangen. Ich trage einen schwarzen Mantel und fülle die rechte untere Bildecke aus. Ein Freund hat dieses Foto geschossen. Ich sehe den Menschen dabei zu, wie sie über die Straße gehen, es ist Februar 2006, zwei Freunde besuchen mich in den österreichischen Semesterferien. Was wir sonst in diesen Tagen in Bukarest gemacht haben, außer an dieser Straßenkreuzung zu stehen, weiß ich nicht mehr. Das Foto kommt mir immer wieder unter, ein paar Jahre lang ist es auch auf meiner Website zu sehen. Das bin ich in Rumänien, denke ich lange Zeit, wann immer ich es betrachte.
Meine letzte Lesung des Jahres 2023 findet in Bukarest statt, genauer – virtuell an der Universität Bukarest. Ich nehme an der Lesung von Wien aus teil. Wo sich alle anderen Beteiligten während der Lesung aufhalten, weiß ich nur in Einzelfällen, gehe in der Mehrzahl aber von Bukarest aus. Soweit ich es beurteilen kann, gehen alle mit den Umständen einer Online-Lesung routiniert um, ich selbst tue zumindest mein Bestes, technisch und akustisch für größtmögliche Verständlichkeit zu sorgen.
Das Publikum, zu Beginn auf die ÖAD-Lektorin beschränkt, mit der ich die Leitung geprüft und den Ablauf besprochen habe, rückt immer weiter weg von mir, je mehr Leute in den Call kommen. Sobald mehr als Dutzend von ihnen beisammen ist, verliert sich mein Gefühl für diese Menschen und die Größe der Gruppe: Ob es 20 oder 200 sind, ist online jenseits des Wissens um eine Zahl kaum zu spüren. Manche lassen die eigene Kamera an, die meisten zeigen durch einen Namenszug an, dass sie eingewählt sind. Ich sehe dem Anwesenheitsticker beim Steigen zu, wir alle sind in unserem jeweiligen Irgendwo einander irgendwie zugewandt, »heute lese ich in Bukarest«, sage ich jemandem am Vormittag, nun sitze ich abends in Wien und lese meinen Text meinem Laptop vor, das Déjà-vu eines Online-Calls wirkt beinah schmerzhaft banal in seiner Austauschbarkeit.
Eines Tages nehme ich das Bukarester Foto von meiner Website. Ich bin darin nicht mehr zu erkennen. Das gilt nicht nur für jene Menschen, die mich damals noch nicht gekannt haben, sondern auch für mich. Wer ist das da, damals in Rumänien, denke ich nun, wenn ich an das Foto herantrete, ich bin nicht mehr auf diesem Foto zu sehen, ich würde mich gerne dazustellen, links neben den Menschen im schwarzen Mantel, der vielleicht gerade im Begriff ist sich zu mir umzudrehen.
Ich lese aus meinem Roman, in dem von jungen Österreichern in Rumänien erzählt wird, und statt nach meinem Gegenüber greifen zu können, wächst in mir die Vorstellung, immer enger um meinen Text zu kreisen, und dabei weiter und weiter von dem Publikum abzurücken. In einem Fenster auf meinem Bildschirm betrachte ich mich selbst, während ich lese, ein Auge immer auch auf den technischen Daten. Zwischen den Lesestellen erläutere ich den Kontext und bereite den Boden für die nächste Szene, und in diesen Phasen, in denen ich die Sicherheit des gedruckten Textes verlasse, spüre ich die Distanz besonders. Ich kann die Resonanz meiner Worte kaum einschätzen, die Intensität der Lesung, die ich weitergeben möchte, bleibt ganz bei mir, und unter den vielen Augen, die auf mich gerichtet sind, fühle ich mich allein. Aber ich kann nur bei mir bleiben, weitermachen und die Hand ausstrecken. Sobald ich die Situation akzeptiert habe, geht es leichter, der Bildschirm scheint wieder näher zu kommen: So viele Fenster nach Bukarest.
Ich suche das Foto hervor und bemühe mich, meine Bukarester Erinnerungen zu sortieren: eben damals, im Februar. Ein andermal per Zug, zu einer Lesung in der deutschen Botschaft. Ein Zwischenstopp vor Wiederaufbauarbeiten an der Donau, ein weiterer sommerlicher Besuch auf dem Weg zum Schwarzen Meer. Einmal für ein Visum. Und wie oft jobhalber? Es lässt sich kaum auseinanderhalten.
Nach der Lesung beginnt Bukarest wieder aus meiner unmittelbaren Aufmerksamkeit zu schwinden, das Jahr endet. Auf einer Landstraße beschleunige ich aus einer Linkskurve heraus, ich ziehe den Schaltknüppel mit satter Selbstverständlichkeit zurück in den vierten Gang, und das Zusammenfallen von Geschwindigkeitserhöhung und vertrautem Handgriff beglückt mich so sehr, dass ich über mich selbst lachen muss. Die tausende Male als befriedigend empfundene Bewegung kennt plötzlich ein erstes Mal, an das ich mich erinnern kann: Todmüde von einer Fahrt durch das halbe Land komme ich nachts in einer unbekannten Großstadt an, vor deren dichtem Verkehr ich mich fürchte. Mit einem deutschen Langzeitfreiwilligen, an dessen Namen ich mich leider nicht mehr erinnern kann, ist ein Treffen auf einem McDonalds-Parkplatz an der Peripherie ausgemacht. Zu meinem Unbehagen ist er in seinem eigenen Auto gekommen, und so muss ich ihm noch quer durch die Stadt hinterherfahren, um zu meinem Schlafplatz für diese Nacht zu gelangen. Der Deutsche fährt weitaus schneller, als mir lieb ist, überquert geregelte Kreuzungen bevorzugt im letzten Moment. Es ist dunkel, die Straßen sind nass vom Regen, ich habe Angst. Dann verschwimmen die Neonlichter der Werbeflächen auf den feuchten Straßen ineinander. Das Rattern der Kopfsteinpflaster wird zu einem drängenden Rhythmus unter den müden Reifen. Alles fällt ab, Angst, Ärger, Erschöpfung: Die Nacht ist schön, die Straße endet nie. Am Ende einer weiten Linkskurve beschleunige ich und ziehe den Hebel zurück in die Vierte. Vor einem Wohnhaus ausgestiegen umarme ich den Deutschen, der meine etwas manische Begeisterung mit Fassung trägt, und bin zum ersten Mal angekommen in Bukarest.
Der Text entstand im Rahmen der Reihe ›Begegnungen – Eine literarische Reise österreichischer Autor*innen durch Rumänien‹ vom Österreichischen Kulturforum Bukarest. Diese Mikro-Journale wurden auf Initiative der Leiterin der Österreich-Bibliothek in Cluj-Napoca, Prof. Laura Laza, ins Leben gerufen.