Reisebericht Nordamerika
Doch die Täuschung beginnt eigentlich schon früher und sie liegt anders als ich sie vermutet habe. Am Morgen meiner Abreise liege ich bäuchlings auf dem Bett meiner Freundin L. und warte darauf, dass sie die Thrombosespritze aufzieht. Es sei doch ein kluger Schachzug, den Flughafen in New Jersey Newark zu taufen, sage ich: Man lässt die Reisenden glauben, sie seien auf ihrem Weg nach New York nur einem Rechtschreibfehler aufgelaufen, dann landen sie aber in einem anderen Bundesstaat. Wer weiß schon, wie die Buchstaben sich da drüben verhalten, oversea!
L. desinfiziert meine linke Pobacke und schießt die Spritze wie einen Dartpfeil. Die Nadel ist kurz und dünn, es tut nicht weh. Wir jubeln beide auf, mehr als eine Sorge um den Schmerz ist es beiderseits von Anfang an mehr eine Frage der Grenzüberwindung gewesen. Schließlich lässt sich die Haut lange von der Nadel wegdrücken und durchbiegen, zumindest für einen Augenblick muss L. sich der Zurichtung hingeben und die Nadel bestimmt durch die Haut stoßen; eine Geschicklichkeit, an der wir beide in diesem Moment weder zweifeln noch ihre Ursprünge erforschen wollen dürfen. Die gegenseitigen Glückwünsche sind zugleich der Abschied. Ich ziehe meine Hose hoch und wir tauschen unsere Plätze. L. geht wieder ins Bett, ich stehe auf, nehme meinen Koffer und ziehe die Tür hinter mir zu. Es ist vier Uhr dreißig, eine Februarnacht, die schon nicht mehr beißen will.
New York! Newark!
So sehr ich mich auch bemühe, meine Aussprache unterscheidet sich bei den beiden Wörtern kaum. Bei New York lasse ich mich auf das O fallen, das gelingt noch. Bei Newark versuche ich die Silben zusammenzuziehen und klappe meine Kinnlade weit auf, doch der Laut schafft es nicht aus dem Gaumen hervor. Heraus kommt ein in die Länge gezogenes New York, das aber ab der zweiten Hälfte sich umentscheidet und unter der Zunge verschwindet. Es klingt wie eine verunglückte Sprechweise der bekannten Stadt. Es hat, für sich, als Ort und als Wort, keinerlei Bestand. Dennoch halte ich an der vermeintlichen Täuschung fest, auch als ich nach der Busfahrt durch das morgenleere Berlin am Flughafen vor der Anzeigetafel stehe, denn auch die zeigt mir New York an, wie ich es will, nicht Newark. Ich bin viel zu früh, ich bin nervös. Am Check-In-Schalter stellt sich ein Mann in Anzug zu mir in die Schlange, fragt mich, von wo ich zum Flughafen angereist bin und wo ich in Berlin übernachtet habe. Er zeigt sich interessiert, macht Witze, doch der anfängliche Flirt, der mir zwar zu der Uhrzeit merkwürdig, aber noch nicht verdächtig scheint, erweist sich dann doch als erste Einreisebefragung: ICTS steht auf seiner Brusttasche, ein privater Sicherheitsdienst, der für die Fluglinie arbeitet. Widerwillig antworte ich ihm, was ich in den USA vorhabe und mit welchem Visum ich einreise und ja, um nach Carlisle zu kommen, hätte ich mit Zwischenlandung in Reykjavik oder Dublin auch gleich in der Nachbarstadt Harrisburg landen können, doch ich will nicht umsteigen – die Umwelt – und lieber direkt nach New York fliegen. Dort würde mich ein Driver abholen, das hat das College vorgeschlagen und organisiert. Erst jetzt denke ich an den Driver. Drei Stunden von Carlisle zum Flughafen, drei Stunden zurück. Wahrscheinlich würde er pünktlich zu meiner Ankunftszeit erscheinen und danach noch einige Zeit auf mich warten müssen, während ich im Zoll feststecke.
Am Gate versuche ich den Menschen abzulesen, wer von ihnen in New York wohnt und wer dorthin gerade in den Urlaub aufbricht. Die Frau neben mir riecht nach einem süßlichen Parfum, das mich an Umkleidekabinen erinnert, und chattet auf ihrem Tablet. Gegenüber sitzt ein Mann in meinem Alter. Er isst gebackene Kichererbsen aus einer großen Packung heraus und liest in einer Zeitschrift. Ich trete zur Fensterfront vor, stecke meine Hände in die Sakkotaschen und schaue auf die Flugzeuge auf dem Rollfeld. Power Dressing hat L. meine Reisegarderobe genannt und ich sagte, das sei charmant, so konnte man es auch ausdrücken.
Erst im Flugzeug, während wir auf den Abflug warten, google ich nach Newark. Newark ist etymologisch gar nicht mit New York verwandt. Auswander:innen aus dem englischen Newark gründeten die Stadt im 17. Jahrhundert und benannten sie danach. Es ist gar nicht der Flughafen, der am verheißenden Ruf der Großstadt mitnaschen will, ich bin es. Newark ist die größte Stadt New Jerseys, über 300 000 Menschen leben dort. Mehr als in der Stadt, in der ich geboren bin.
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Die Wahl der passenden Lektüre ist wichtig, wenn nicht sogar ausschlaggebend für die Eindrücke auf einer Reise. Meistens packe ich so viele Bücher wie nur möglich ein, lese dann aber ausschließlich jene, die ich unterwegs kaufe. Dennoch würde ich nie auf die Kofferbücher verzichten wollen. Sie sind mir die liebste Reisegesellschaft. Sie halten mir den Rücken frei oder sie geben mir Rückenwind, auf jeden Fall hat es etwas mit dem Rücken zu tun, der im Zug von Montreal nach Ottawa plötzlich zu stechen beginnt und mich an mein entzündetes Auge in Washington denken lässt, das ich am Tag vor meiner Lesung kaum noch öffnen konnte. Wir Schriftsteller:innen neigen dazu, in allem nur die Zeichen zu lesen und übersehen dabei die Ursachen, sagt ein Freund zu mir, manchmal krankt der Körper auch nur des Körpers willen. »Du hast eine bakterielle Augenentzündung und vielleicht hast du dich auf der weichen Hotelmatratze verlegen, was weiß ich.«
Ich bin zum ersten Mal in Nordamerika. Es ist ein schwieriges Unterfangen, nicht die Zeichen zu lesen, die sich hier aufdrängen, nicht den Blick dem bereits in Film und Literatur Gesehenen und Erfahrenen zu unterstellen, denn es gibt sie natürlich, die beigefarbenen Häuserlandschaften, die Cowboys, die Trucks, die Guns. Amerika macht es kompliziert. Es lässt sich nicht hinter die Kulissen schauen. Im Bible TV wird der Präsident und der Congress abgeschworen und an Jesus erinnert. Auf dem Highway liegt ein totes Tier. Im Greyhound-Bus tritt ein Mitreisender zum Buschauffeur vor, er ist aus Queens, der Chauffeur aus Brooklyn. »Man, that‘s the thing about New York, we are friendly to everybody, but when somebody is unpleasant, we hold together.«
In einem kleinen Buchladen, wo als erstes die Katze und erst als ich die Klingel am Tresen betätige, der Buchhändler aus dem Lager kommt, kaufe ich Jean Baudrillards America in englischer Übersetzung. Amerika sei eine verwirklichte Utopie, sei die Kulisse selbst, weder Traum noch Realität, sondern eine Hyperrealität, schreibt Baudrillard in den 1980er Jahren, Amerika sei die Originalfassung der Moderne, Europa nur die untertitelte beziehungsweise synchronisierte Version davon. Deshalb können wir Europäer:innen die Krise der USA nicht wie unsere eigene beurteilen, die Krise der europäischen Staaten, in der historische Ideale mit der Unmöglichkeit ihrer Realisierung konfrontiert werden, die Krise der USA sei die einer tatsächlich erreichten Utopie, die mit ihrer andauernden Wirklichkeit zu kämpfen habe. »This is the only country which gives you the opportunity to be so brutally naïve: things, faces, skies, and deserts are expected to be simply what they are. This is the land of the ›just as it is.‹«, schreibt Jean Baudrillard. Und: »What you have to do is enter the fiction of America, enter America as a fiction. It is, indeed, on this fictive basis that it dominates the world.«
Ich lese im Zug. Draußen zieht eine grünbraune Frühlingslandschaft vorbei. Häuser, Bäume, Hügel, die ich nun, so fremd sie mir auch sind, als das erkenne, was sie sind: Häuser, Bäume, Hügel. Ich gehe sie mit meinen mitgebrachten Worten ab. Die meisten anderen Fahrgäste im Zug dösen vor sich hin. Auch der Mann, der mir gegenüber sitzt, schläft, der Mund geöffnet, eine einzelne Träne rinnt ihm langsam über die Wange. Ich sehe ihr dabei zu.
Am Ende meiner Reise bleibt ein Blick. Ein fiktiver Blick, der meiner ist, es ist Rush Hour in der Montrealer U-Bahn und die Menschen haben es eilig. Mir gefallen die Farben in der Station. Auf dem blauen Boden ist ein Mosaikmuster in verschiedenen Orangetönen, und auch die Anzeige, die auf die verschiedenen U-Bahn-Linien verweist, ist kobaltblau, die einzelnen Richtungen sind in Knallorange und Rot angeschrieben. Ich bleibe stehen und mache ein Foto. Eine Frau in einem spektakulären weinroten Mantel dreht sich nach mir um, als sie vorübereilt. Für einen Moment fürchte ich, dass ich ihr im Weg stand, aber sie schaut auf die Anzeigetafel, dann auf mich, wieder zur Anzeigetafel. Um was geht’s? Es ist der Blick einer Reisenden, den die Frau nun aufsetzt und mit dem sie auf ihr Zuhause schaut. Es geht um den geteilten Blick in einer fiktiven Welt, die uns alle zu Romanschriftsteller:innen macht.
Marie Gamillscheg war von Februar bis Mai 2024 Writer-in-Residence am Dickinson College in Carlisle, Pennsylvania. Während Ihres Aufenthaltes präsentierte die Autorin auf Einladung der Österreichischen Kulturforen Washington und Ottawa ihre beiden Romane »Alles was glänzt« und »Aufruhr der Meerestiere« bei Lesungen in Montreal, Ottawa und Washington, DC.