Estland im April
Schnee, überall Schnee. Das Flugzeug rollt zum Gate – und die Müdigkeit der zu kurzen Nacht, die mit dem Beginn der Reise um fünf Uhr früh endete, wird von der Neugier auf Estland, auf diese mir unbekannte Weltgegend übertüncht. Neben, vor, hinter mir werden die ersten Gurte geöffnet, während ich weiter das Draußen beobachte: nasse Fahrzeuge, warm eingepackte Menschen in Signalfarben bei der Arbeit. Drinnen murmeln und drängeln die Passagiere. Das Flugzeug erreicht seine Parkposition, auch ich öffne den Gurt, sitze und warte, bis sich die murmelnde Ungeduld weiterbewegt.
Im Flughafengebäude Tallinn Lennart Meri verläuft sich alles, niemand hält sich auf, die Entschlossenheit der Ankunft ist international. Nur ich bleibe an einer der großen Glasscheiben stehen, um ein Foto zu machen und es meiner Schwester zu schicken: Ich hatte mit Regen gerechnet, bekommen habe ich Schnee.
Estland empfängt mich Ende April 2024 mit einer Winterlandschaft und der Erkenntnis, dass ich mir eine Fahrkarte für den früheren Bus von Tallinn nach Tartu hätte kaufen können. Er wäre gemütlich erreichbar gewesen; der Flug war pünktlich, der Flughafen ist überschaubar, der dazugehörige Busbahnhof leicht zu finden.
Kurz überlege ich, das Ticket umzutauschen, aber die Gelegenheit des langsamen Ankommens ist reizvoll. Ich kaufe Kaffee und ein Croissant, beobachte, lausche. Ein Kreischen geht ins Mark. Es sind nicht die Kinder, die kreischen, sondern die Metallbeine der Bistrostühle, die sie über den Boden ziehen. In einer sehr ruhigen, mit leiser Musik bespielten Damentoilette putze ich mir die Zähne, trage ein bisschen Make-up auf, ein wenig Lidschatten, einen Hauch Parfüm: Estland, ich bin bereit für dich.
Im Durchgang zu den Busterminals hängen ungewöhnliche Bilder, großformatig: ein geöffneter, mit Drähten und Metallen aller Art und Form gefüllter Kühlschrank, viel Kupfer darunter. Auf dem nächsten ein Koch beim Anrichten der Teller, gekräuseltes Metall auf Beilagscheiben an Spiralfedern und glänzenden Gewinden. Die Werbung eines Unternehmens für Metallrecycling. Unfit for consumption, ideal für reuse.
Hätte ich Werbetexterin werden können? Wäre mir Brauchbares eingefallen? Und wäre das ein Weg, sollte die Literatur zum Geldverdienen nicht mehr genügen? Die ewige Frage Kunstschaffender angesichts der am Horizont dräuenden grauen Wolke des Prekariats. Aus welcher Richtung kommt der Wind, wird er sich drehen?
Zumindest heute dreht er sich nicht. Estland und der Schnee. Ich warte in der eisigen, guten, frischen Luft auf den Bus 129 nach Tartu, wickle mich fester in den Mantel. In Abständen kurz hinein in den Warteraum wechseln, wo auch Autos gemietet werden können und jene, die diese Autos vermieten, in der Wärme gähnen. Es ist sehr still hier, eine eigene Stille über allem. Wieder raus. Null Grad.
Im Bus ist es bequem. Zurücklehnen und schauen. Ich sehe ein Riesenrad, sehe drei Gänse, einen Teich mit Steg, die weißen Spitzen der Bäume. Sehe viele Vögel, folge den Wegen ins Verschneite, in die Wälder hinein, dunkle Zweige, die Spuren von Tieren und stelle mir vor.
Stelle mir vor, hier zu leben, nicht her-, sondern heimzukommen. Oder, viel besser: Ich arbeite am Flughafen, am Info-Point, im Bistro, in der Autovermietung. Müde von der Frühschicht, war wenig zu tun. Was draußen vorbeizieht, geht nicht tief, bleibt an der Oberfläche, es ist mir (in dieser Vorstellung) nicht neu. Wenn doch, hebt sich der Blick, fängt ein, vermerkt, senkt sich. Noch vier Stationen. Zahlt es sich aus, aus dem Mantel zu schlüpfen? Daheim hinter der Tür die gelben Hausschuhe, und ob ich noch einkaufen gehen soll, bevor. Was fehlt?
So denke ich. Und weiß gar nichts über Estland, außer dem, was an mir vorbeizieht. Es gibt Störche, einer stakst in einer grasbewachsenen Zufahrt. Die Häuser sind anders gebaut. Ich notiere den Halbsatz: die Willkür der Zäune. Ich schlafe ein, wache auf. Der Schnee ist verschwunden. Das, was ich für Regen halte, ist das Tippen zweier Frauen auf ihren Notebooks. Der Bus fährt zügig und die Bilder setzen sich fort. Ein weißes Häuschen mit grüner Rutsche. Ein umgestürzter Baum, der flache Wurzelstock aus dem Boden gehebelt. Sehr schöne weiße Hausgänse, eine ganze Schar. Ein See, ein See, ein nasses Land. Darauf zwei nasse Schafe in dicker Wolle. Vor Tartu ein aus Zweigen geformtes Tier, ein (noch) blattloses Buschpferd.
Das soll ein Reisebericht werden, keine Aufzählung von Beobachtungen. Aber ist nicht die Beobachtung das Wesen der Reise? Die sich zum Vorort, zur Stadt verdichtende Landschaft, die Straßen Tartus und schließlich der Busbahnhof mit einem Regenschirm, unter dem mich Hella Liira anlächelt. Sie holt mich ab. Wie froh ich bin, abgeholt zu werden, und immer wieder werde ich abgeholt, in jeder Station meiner Baltikumreise, die mich nach Estland, Lettland und Litauen führt.
Aber jetzt gerade, in diesem Moment, ziehe ich an der Seite Hellas meinen Koffer durch die Straßen der Universitätsstadt, die nicht sehr groß ist und doch die zweitgrößte des Landes, hübsch am Emajõgi gelegen, und Emajõgi heißt Mutterfluss. Der längste Fluss hier, der Name passt, und alles passt.
Estland umfängt mich mit einem Zimmer im Hotel Tampere Maja, eines der ältesten Häuser Tartus, aus Holz gebaut, 18. Jahrhundert, ein bewohnbares Kulturdenkmal. Ich schleppe meinen Koffer die steile Stiege hinauf, die Stufen knarren, der Boden des Korridors erinnert mich an die Schiffsböden unseres alten Hauses in Eferding. Der Auftakt ist gemacht. Noch einmal Luft holen, am Fenster stehend, dann beginnt die Zeit, sich zu beschleunigen.
Mit Hella bei einer Lesung Sofi Oksanens, der Saal ist voll, die Aufmerksamkeit hoch, das Gespräch auf Englisch. An der Wand steht über der mit Mänteln und Jacken vollgehängten Garderobe in großen Lettern zu lesen: Andere Menschen denken. Durch die Straßen Tartus weht kalter Wind. (Der Wind wird mich nach Tallinn begleiten.) Im Supermarkt kaufe ich Tee und eine Wärmflasche, ich brauche eine in jedem Land, in diesem besonders. Im Bett im Tampere Maja schläft es sich grandios.
Am nächsten Tag führt mich Janine Aloe, Doktorandin an der Germanistik, durch Tartu, eine europäische Kulturhauptstadt im Werden. Noch nicht ganz fertig, noch keimen die Vorbereitungen wie die Knollen im Boden des botanischen Gartens, aber wenn das Frühjahr kommt, wenn es so richtig da sein wird, dann! Dann bin ich nicht mehr hier, sage und denke und bedaure ich, weil Tartu jenes Zeug zur Schönheit hat, die sich auch an grauen Tagen zeigt.
Weiter, weiter! Die weißen, mit schwarzen Zecken aus Metall übersäten Statuen im Museum der Universität prägen sich ein. Viele Stockwerke darüber, im hohen Dachstuhl: der alte Karzer mit den Wand-Zeichnungen der hier maßgeregelten Studenten. Das Moderne und das Gestrige.
Mittagessen, neue Menschen, Reet Bender, Daniel Kulesza. Hella lächelt mich durchs Programm. Ihre Studierenden haben Teile aus Dschomba übersetzt, E-Mails zwischen ihnen und mir hin und her. (»Wie ist das gemeint, er war schon auf der Welt?«) Über diese jungen Menschen finden die Zeilen, die Sätze von der österreichischen Hochsprache (über deren Unterschied zum Hochdeutschen ich einen Vortrag halte) ins Estnische.
Der Abschied beim Germanisten-Stammtisch, ein hochgewölbiger Keller/Bunker als Gaststätte, danach vergrabe ich im Pirogow-Park – der einzige öffentliche Park in Estland, in dem Alkohol konsumiert werden darf – einige Zweifel zwischen den Wurzeln eines Baumes. Welche und wie? Ein Geheimnis, auch wer es teilt, wer mir beim Vergraben geholfen hat, wird nicht verraten.
Der Zeit wachsen Federn, sie fliegt dahin. Dritter Tag, früher Morgen, im Bus Richtung Tallinn. Der Schnee ist fast verschwunden. Noch kein blauer Himmel, dafür der Wind. Die Hände sind bitterkalt. Wie kalt? Mittagessen in der Residenz des Botschafters, ein Butler hilft mir aus der Jacke, ich berühre seine Hand mit meiner kalten. Er ist, das möchte ich hier vermerken, der erste Butler, dem ich je begegnet bin, und ich hoffe, die Bezeichnung stimmt, falls nicht, nehme ich sie dennoch in Anspruch, sie scheint mir richtig.
Auf der Einladung steht, dass sich Mag. Peter Mikl und Frau Mag. Maria Mikl-Kaufmann freuen. Sie freuen sich tatsächlich und ich mich auch, das papierene Versprechen ist eingelöst.
Ich lerne kennen: Merle Rahkema, Merili Martinson, Aija Sakova. Und wie eigenartig antiquiert es klingt zu sagen, dass man all den bisher Genannten zu Dank verpflichtet ist, und um wie viel besser es sich anfühlt zu schreiben, dass man es nicht ist, weil keine Verpflichtung zu spüren war. Aber vielleicht genau aus diesem Grund drängt es mich danach: Hiersein zu können verdanke ich vielen.
Noch bin ich in Tallinn, noch habe ich etwas einzulösen, nach einem wind-getriebenen Gang durch die Stadt, nach einer kurzen Rast im Hotel. Ich gehe zur Lesung. Gehe flott, als wäre es meine Stadt, als wäre mir jeder Stein, jede Fassade, jeder Zebrastreifen bekannt. Das muss sein in den fremden Städten meiner Welt, dieses Spiel, ich wäre eine andere.
In der Estnischen Nationalbibliothek finden sich der Botschafter (mit Wollhaube) und seine Frau ein. Viele Leute beschauen mich und ich sie. Die Autorin Aija Sakova führt ein Gespräch mit mir, die studentischen Übersetzungen werden passend zu den von mir gelesenen Abschnitten auf eine Tafelwand projiziert, wir trinken zum Ausklang Kaffee, essen Kekse – ich fühle mich erhoben.
So war Tartu, so war Tallinn. Zum Abschied winke ich Merle Rahkema zu, wir waren nach all dem schönen Trubel in einer Bar eine Kleinigkeit essen, und eine Kleinigkeit ist diese Reise nicht.
Am nächsten Morgen im Taxi zum Busbahnhof. Im Flix-Bus Richtung Lettland. Zwischen Bäumen irgendwann ein wenig Meer. Ich denke nach hinten, ich denke nach vorne, dazwischen diese Stille, die sich auf Reisen einstellt und mit einer Sehnsucht daherkommt, die alles sein kann. Fernweh und Heimweh nach dem gerade erst Erlebten. Das ist das Schlimme und Schöne zugleich.
Im Rahmen einer Lesereise durch die baltischen Staaten war Karin Peschka am 24. April 2024 in Tartu sowie einen Tag später in Tallinn zu Gast.