Abdulrazak Gurnah steht neben mir und wartet auf den Lift. Ist er das wirklich? Wie ihn anreden? Mister oder Monsieur? Heißt er überhaupt Gurnah oder doch Gunrah? Und wie hieß nochmal das Buch, das ich zwar nicht gelesen, aber immerhin meinem Freund geschenkt hab. Das, wo die ganze Geschichte von… Ach, so viele Fettnäpfchen die bereitstehen und darauf warten, betreten zu werden.
Ich entschließe mich dazu, ihm bloß mit einer respektvollen Nick-Geste zu adressieren und insgeheim in Ehrfurcht zu erstarren. Ich überlege noch, ob das Buch »Nachleben« oder »Nachtleben« heißt, das sich mit der deutschen Kolonialzeit in Ostafrika befasst und komme zum Schluss, dass es wohl »Nachleben« sein muss und gleichzeitig frage ich mich, wie weit genau sich das Habsburgerreich in den Osten ausdehnte. Teile vom heutigen Rumänien gehörten zum Habsburgerreich, das weiß ich. Auch dass sich Sachsen und Schwaben da und dort ansiedelten, weiß ich. Aber wie ist man verblieben? Ist man auf das Habsburgerreich hier besser zu sprechen als auf das heutige Österreich? Schwingt das Veto Österreichs gegen den Beitritt Rumäniens zum Schengenraum mit, wenn ich mich hier als »from Austria« vorstelle? Ach, so viele Fragen, die darauf warten, beantwortet zu werden.
Vom Thronfolger Ferdinand steht in Iași immerhin noch eine Statue vor dem Rathaus, das diesem einst als Residenz diente. Sonst kommt man im Ausland meist gut durch, wenn man sich als Österreicher vorstellt, hier ist das gerade zu Recht nicht ganz so. Ja, im Auslandsdienst ist man immer auch Vertreter des Landes. Bin ich mit dem politischen Kurs Österreichs einverstanden? Nein. Kann ich das als bekannt voraussetzen? Nein. Ist eine distanzierte Haltung mir gegenüber also angebracht? Ja. Kann ich was dagegen tun? Ja. Was? Allen einfach freundlich begegnen. Ach, so viele Fragen aber immerhin auch ein paar Antworten.
Manchmal ist ja schon ein Nicken freundliche Begegnung genug. So zum Beispiel beim Warten auf den Aufzug aber auch im Zug. Da sind es Sekunden, die man miteinander verbringt, dort können es Stunden sein. »Alo« und »Poftă bună« kann ich. Das ist nicht nichts. »Mulțumesc« ist schon schwieriger. »Mulțumesc« oder »Mulțumim«? Heißt es überhaupt »Mulțumesc« oder doch »Mutschumess«, nein, dass kommt mir dann doch etwas spanisch vor. Dass das häufige »Fuck!«, das ich in den Talks zu hören glaube, ein »fac« sein muss und von »facere/machen« kommen muss, kann ich mir mit meinen Latein- und Italienischkenntnissen selbst zusammenreimen. Aber warum werde ich blöd angeschaut, wenn ich mit »Prost« anstoße? Okay, das immerhin hat mir beim Warten auf ein Bier ein Dichtkollege erklärt. »Prost« heißt so viel wie blöd, dumm, doof! Ach, so viele Fettnäpfchen, die bereitstehen und darauf warten, betreten zu werden.
In der Warteschlange kommt man leicht ins Gespräch. Es verbindet einen ja schon mal das Verlangen nach beispielsweise einem Getränk und plaudernd wartet es sich leichter. Bist du mehr Bier oder Wein? Bist du bei dir oder allein? Bist du mehr Birchermüsli oder Obstsalat? Bist du mehr Bauchfleck oder Multi-Tasking-Spagat? Bist du mehr Chai Latte oder Mai Tai? Bist du mehr Immer-am-Start oder Immer-schon-vorbei? Bist du mehr mehr oder lieber immer weniger? Bist du mehr Schmusekatze oder Fauchtiger? Bist du mehr Guacamole oder Feuerzangenbowle? Bist du mehr Bowling oder Kegeln? Bist du mehr Kitesurfen oder Old-school-Segeln? Bist du mehr mein Typ als ich alleine wär? Dann lass mich für dich da sein, bitte sehr! Ach, so viele Fragen, die darauf warten, beantwortet zu werden und so viele Fettnäpfchen, die darauf warten, betreten zu werden.
Wartende jedenfalls sind eine Schicksalsgemeinschaft, aber nicht alle Wartenden sind auch für Gespräche offen. In der Warteschlange im Flughafen beispielsweise will niemand mit den Nachbarn plaudern. Der Flughafen ist ein Transitraum, es geht ums rasche Weiterkommen, so auch in der Flughafen-Warteschlange. Das rasche Weiterkommen scheint mir sinnbildlich für viele und vieles hier. Aber die Warteschlange im Literatur-Festivalzelt, die sich vor der Bar bildet, die ist gemütlich und gesellig. Da sind Fragen herzlich willkommen und werden Fettnäpfchen fröhlich gemeinsam geext. Diese Warteschlange ist ein idealer Ort.
Ein idealer Ort kann auch eine Straßenecke in Timișoara sein, wenn du mit einem Bassisten und einer Harfenistin vor dich hingroovest und dein »Wenn-Gewetter« auf eine Steinmauer und in eine Kamera loslässt, auf dass daraus dann ein Poetry-Video-Clip entstehe.
Ein idealer Ort kann auch die Österreich Bibliothek in Cluj-Napoca sein, wenn sich dort in einem Bücherregal ein Buch von Mieze Medusa (der Angetrauten des hier Schreibenden) findet, und sich aus dem Titel des Buches »Meine Fußpflegerin stellt Fragen an das Universum« gleich eine Workshop-Schreibübung für die anwesenden, schreibwilligen Studierenden entwickelt.
Ein idealer Ort kann auch der dritte Stock im Literaturmuseum in București sein, wenn dir dort Răzvan Ţupa Fragen stellt, Andrei Popov (der generell in seinen Mails keine Fragen offen lässt) ein Roll-Up des Österreichischen Kulturforums aufstellt und dem Publikum gefällt, was da geredet, gelesen und geslammt wird. Werden ideale Orte miteinander verknüpft, ergeben sie eine perfekte Tour – Danke dafür.
Die Leidenschaft, den anderen zu entdecken, in seiner Heimat. Ideen, Empfindungen, Klänge, Freundschaften, die durch den Kontakt zweier Kulturen entstehen, starke Erinnerungen, die man aus Rumänien mitnimmt, all diese Elemente finden sich in »Begegnungen. Eine literarische Reise österreichischer Autor*innen durch Rumänien«, ein Projekt, das Ihnen das Österreichische Kulturforum Bukarest empfiehlt. Diese Mikro-Journale wurden auf Initiative der Leiterin der Österreich-Bibliothek in Cluj-Napoca, Prof. Laura Laza, ins Leben gerufen und werden mit Unterstützung der Österreichischen Gesellschaft für Literatur und des Österreichischen Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten präsentiert.