Walking home?!
»Your only home is in your shoes.« Diese Sentenz dichtet Joanna Russ den außerirdischen Protagonistinnen ihres Romans The Female Man an. Manchmal ertappe ich mich dabei – ganz ohne die feine Ironie, die bei Russ immer wieder durchkommt –, nach diesem für gerahmte Stickerei oder computergenerierte Kalligraphie geeigneten Motto zu leben. Diesmal geht die Reise wieder nach Bowling Green, Ohio, wo ich bereits während der Pandemiezeit ein Semester lang unterrichtet und geschrieben habe. Ich schnüre meine schwarzen Lederstiefel, die fest genug sind, um mich gut durch den Midwestern Winter zu bringen, und schön genug, um nicht überall underdressed aufzukreuzen. Gepäck und Handgepäck trage ich drei Stockwerke nach unten, das Handy lasse ich auf dem Schreibtisch meiner Wiener Garçonnière liegen. Als ich es in der Schnellbahn nicht aus meiner Tasche kramen kann, ist noch Zeit, umzudrehen und es zu holen. Das tue ich auch – nichts ahnend, dass sich Reisende zwischen den USA und anderen Ländern nur wenige Monate später ganz bewusst ein Zweithandy zulegen würden. In Wien Schwechat und am Gate angelangt, werde ich zum Random Security Check gebeten, darf aber aus- und in Newark auch einreisen.
Schreibende wissen, dass Heimat, Zuhause, Zugehörigkeit nicht zwangsweise an Orten zu finden sind, sondern auch die Möglichkeit besteht, sich ein Haus in der Sprache zu bauen. Auf der anderen Seite des Atlantiks geschieht selbst dies auf Kredit. Das lernen Autor:innen, die Creative Writing studieren, genauso wie jene, die dabei sind, Kurzgeschichten oder Gedichte über Submittable einzureichen. Ich ziehe mehr und mehr im Englischen ein, genauso wie in der Kleinstadt, die mir jeden Tag ein Stück vertrauter wird. Glücklicherweise vermietet ein Kollege von der Universität ein viktorianisches Haus, das er nur sporadisch nutzt und das mir für vier Monate zur Schreibbleibe wird. Die Architektur typisch amerikanischer Häuser evoziert Vergleiche mit kontinentaleuropäischen Grundrissen und Erinnerungen an Gaston Bachelards Poetik des Raumes: »Es gibt kein abgenutzteres Bild als das des Schnecken-Hauses. […] Aber nichtsdestoweniger bleibt bestehen, dass es ein Initialbild ist und ein unzerstörbares Bild.« Im Erdgeschoß sind die allgemein zugänglichen Räume: Küche, Esszimmer, Wohnzimmer. Je weiter ich mich in das Gehäuse verziehe, desto privater werden die Bereiche: oben das Bad, zwei Schlafzimmer, und eine Fensterbank, auf der ich mich niederlasse, um die Rehe im wunderschön wilden Garten zu beobachten und Margaret Atwoods The Handmaid’s Tale zum zweiten Mal zu lesen.
Dass der Alltag in den Staaten manchmal so wirkt, als sei alles menschliche Leben auf Sand gebaut, habe ich bei meinem letzten Aufenthalt mit zwei Kanadierinnen bei einem Iced Latte besprochen, auf der Terrasse des Backsteinbaus, in dem wegen Covid bis auf Weiteres kein Unterricht stattfinden würde. Die beiden hatten es recht eilig, zum Semesterende wieder abzureisen: »Back to Canada, back to rock.« Dass nicht nur der Traum von Studienabschluss, fahrtüchtigem PKW und Eigenheim in den USA eine instabile Grundlage hat, sondern auch die Häuser selbst, merke ich, als es bei mir und in anderen Häusern zugleich Plumbing Issues gibt. Natürlich sei ein Teil der Stadt auf Sand gebaut, die Straße Richtung Osten hieße ja Sand Ridge, verrät mir eine Kollegin. Der American Dream wird auch auf Asphalt errichtet: an europäischen Maßstäben gemessen völlig überdimensionierte Straßen und riesige Parkplätze, die den ohnehin fast flachen Boden der Tiefebene begradigen. Der ist so lange gerade, bis die ersten Schlaglöcher entstehen. Geben Risse im Asphalt Grund zur Hoffnung? Deborah Fleming schreibt in ihrem Essayband Resurrection of the Wild: »The roads grew up in grass while the once-planted slopes reverted to woods and then forest. Now the roads are trails once again, traversed by hikers as well as deer.« Gelingt der Wildnis die Rückkehr auch, wenn es sich um Parkplätze handelt?
Bereits heute bleibt trotz der vielen Hektar, die von Asphalt versiegelt sind, ein Eindruck von Weite und nahezu kitschiger Schönheit erhalten. Auf dem Weg zum Supermarkt betrachte ich den Himmel als auf den Kopf gestelltes Meer. Aus diesem Kippbild kritzle ich eine lose Notiz in mein Heftchen, lasse sie nachwirken und tippe später die Gedichtzeile »and i took butterfly swimming lessons for sky crossing«. Ich kann überhaupt besser schreiben, wenn ich zu Fuß unterwegs bin – das ermöglicht zugleich ein Sammeln von Eindrücken und ein Auslüften des Kopfes, der oft zu voll mit textfremden Angelegenheiten ist. Manchmal spaziere ich vom Autoverleih zurück, nachdem ich einen Leihwagen retourniert habe. Aus einem der Gärten ruft mir der Installateur zu, der sich gerade an Rohren in einem Vorgarten zu schaffen macht: »What are you doing? Walking home?!« Das scheint im Mittleren Westen absurder zu sein als alle ein, zwei Wochen bei Enterprise Car Rentals zu stehen, mit drei Bankkonten und zwei Kreditkarten am Limit, und trotzdem fast immer ein Upgrade zu erhalten: einen anthrazit-glänzenden Nissan oder einen nachtblauen Mazda SUV; als besonderes »Geschenk« werden mir mit der größten Selbstverständlichkeit die Schlüssel für einen fast neuen schwarzen Benz überreicht.
Ich bringe den Benz, den ich eigentlich nur zum Einkaufen gebraucht habe, ohne Parkschaden wieder zurück. Supermärkte sind riesige Hallen am Stadtrand, und den Fußweg auf dem schmalen Gehsteig nehmen fast nur jene auf sich, die müssen: Menschen, die arm sind, mit schweren psychischen Erkrankungen leben oder wegen Suchtmittelge- oder -missbrauchs ihren Führerschein verloren haben. Die Inflation frisst sich in die Kochpläne: Eier sind nach wie vor teuer, Blattsalat oder Waldbeeren stehen bei einigen Studierenden nicht mehr auf dem Einkaufszettel. Fast Food ist billig und Übergewicht ist genauso eine Klassenfrage wie Mobilität. In meinem Stammcafé entdecke ich einen Flyer: »The Cage Free Mechanic / Free Auto Repair / TOLEDO / No hoops or strings or fine print, we just fix cars for fun, and casserole«. Die Rückseite deklariert in Comic Sans, dass es niemand verdient habe, zwischen Bremsbelägen und der nächsten Mahlzeit entscheiden zu müssen. Nicht nur in den improvisierten Werkstätten Toledos springt die Community ein, wenn staatliche Auffangnetze nicht vorhanden sind oder versagen. Ich komme zu spät zu dem Vortrag von Colin Woodard, der in seinem Buch American Character eine Erklärung dafür anbietet, wie die USA so wurden, wie sie sind: Bis heute würden sich die weltanschaulichen und religiösen Denkmuster der verschiedenen Einwanderergruppen – von Calvinist:innen bis Quaker:innen – auf die politische und gesellschaftliche Lage auswirken. Daher zeige sich die USA einerseits als hyperkapitalistische Nation, in der individuelle Freiheiten großgeschrieben würden; andererseits als eine Ansammlung unterschiedlicher Bundesstaaten, Städte und Ortschaften – auch solchen, in denen das Gemeinwohl hochgehalten werde. Die Bowling Green State University nennt sich jedenfalls stolz A Public University for the Public Good.
Wenn ich Signalnachrichten Richtung Wien schicke, komme ich mir manchmal vor als würde ich vom Mond aus die Erde anfunken, mitunter werden die Chats zur Kommunikation zwischen Monden. Über das Gefühl, dass es eine:n schleudert, schreibe ich nach Favoriten: »solange nicht so, wie das meine amerik. waschmaschine tut (rohe gewalt, maximal für jeans, die textilindustrie freut sich 1 haxn aus), more or less ganz bleiben ist m.e. schon erstrebenswert«. Ich lese in der New York Times und sogar schon auf orf.at von willkürlichen Kündigungen: Servicemitarbeiter:innen in Nationalparks, Postler:innen, Veterinärmediziner:innen. Währenddessen planen Menschen weiterhin Wanderungen, warten auf Pakete und Briefe, wollen Geburtstagskuchen backen und legen wegen der Vogelgrippe Unsummen für einen Karton Eier hin. Elon Musk und seine Gefolgschaft ruinieren dieses Land genauso effektiv und effizient wie der Top Loader meine Pullover und Socken, denke ich in einem pessimistischen Moment.
Manchmal wirkt vieles von dem, was in der Zeitung steht, surreal, wenn ich durch die Gässchen der aufgeräumten und bis auf Vogelgezwitscher ruhigen Kleinstadt jogge oder flaniere. Verelendung, Klimakatastrophe und andere Dystopien finden jedoch auch nach Bowling Green. Im Januar überraschen mich Niederschläge und Starkwinde auf meinen Wegen, was bis in den Frühling hinein so bleiben wird. Einmal werde ich mich wegen einer Tornadowarnung in die Besenkammer flüchten, einmal unsanft auf eine Eisplatte fallen. Auch beim Katastrophenwarndienst wird gekürzt und gekündigt. Als ich später meinen Wintermantel zur Reinigung bringe, meint die Person hinter dem Tresen über das Wetter in Ohio: »Mother Nature, go to bed, you’re drunk!« Im Februar, dem Black History Month, verstreut der Ku Klux Klan Flyer, die von Spaziergänger:innen gefunden werden. Wegen Verhetzung kann der Gruppe nichts passieren, der Inhalt ist von der Meinungsfreiheit gedeckt. Maximal blühen Probleme wegen Littering. Ich erfahre davon, als ich mit meinen Kolleginnen vom Departement beim Black Issues Luncheon an einem der Dutzenden runden Tische sitze. Mir vergeht der Appetit, ich stelle mich trotzdem beim Buffet an und schaffe es, meinen Teller leer zu essen. Im März verbringe ich eine Woche in Washington DC. Noch sind Exponate, die afroamerikanische oder indigene Geschichte erzählen, nicht aus den Smithsonian Museums entfernt worden und ich kann die Quilts von afroamerikanischen Künstler:innen und die Registerblätter mit Zeichnungen von Native Americans bestaunen. Schräg gegenüber vom Weißen Haus bewahrt eine ältere weiße und vermutlich wohnungslose Frau Trump-Devotionalien unter einer Plastikplane auf. Sie nimmt auf einem Campingstuhl Platz, spannt einen Sonnenschirm auf und ruft mir »Bless you!« zu, als ich niesen muss.
Ich verschlafe die totale Mondfinsternis, schaffe es in keinen der Nationalparks und gewöhne mich daran, allein in einem Leihwagen zu sitzen und Matcha Latte aus einem Halbliterbecher oder Cola aus einer PET-Flasche zu schlürfen. Immer mehr dämmert es mir, dass dieses Land kippt und dass es einige der schlimmsten Nachrichten nicht bis nach Europa schaffen. Ich lese in Word in Black, dass der Gesundheitsminister die Vision hegt, Schwarze Kinder mit ADHS von ihren Familien zu trennen und in Arbeitslagern zu internieren, ohne Handys und ohne ihre bisherige Medikation. Die New York Times spült mir die Liste der für Ämter verbotenen Wörter ins Bewusstsein, von accessible bis hin zu women and underrepresented. Für mich ist es unfassbar traurig, das zu beobachten – schließlich sammle ich seltene, treffende und nicht diskriminierende Wörter in meiner Erst- und in meiner Zweitsprache. Was muss dieser Verlust erst für diejenigen heißen, die nicht wie ich irgendwo in Europa freiberuflich tätig sind, sondern die tatsächlich genötigt werden, ihre Sprache solchen Vorgaben anzupassen?
Bei jedem kurzen Aufenthalt in Toledo – einer Stadt zwanzig Meilen nördlich von Bowling Green, die inspirierend zum Schreiben und hart zum Leben ist – kommt ein Element in die Kurzgeschichte, wegen der ich unter anderem angereist bin: Einmal ist das ein abgenutztes Spielbrett im Mistkübel am Damenklo der Amtrak Station – Monopoly, der Arbeitstitel meiner Story –, einmal ein Graffito einer normschönen Frau mit seltsam proportionierten Händen, das ziemlich sicher mithilfe von KI gefertigt wurde. Bei meinem letzten Aufenthalt winkt mir von einem der älteren viktorianischen Häuser, das dem fiktiven Haus meiner Protagonist:innen sehr ähnlich sieht, ein Schwarzes Mädchen im Volksschulalter zu. Ich deute diese Geste als zögerliche Einladung, dass es okay sei, über die Stadt und ihre Bewohner:innen zu schreiben, solange ich dies mit Respekt und Vorsicht tue. Die Zweifel werden sich später wieder melden. Zu den geplanten und zufälligen Recherchen kommen die unfreiwilligen: zehn Minuten lang zu Fuß mit zwei Rollkoffern zum Bahnhof zu gehen, um zwei Uhr morgens. Das gerufene Taxi ist nicht gekommen und den Zug Richtung New York Penn Station darf ich nicht verpassen. Ich habe aber Glück im Unglück, außer mir ist literally niemand auf der Straße. Am Flughafen, diesmal JFK, werde ich erneut gefilzt – diesmal vermutlich wegen eines – wie heißt das Ding? Chapstick, not chopstick. Ich krame den durchsichtigen Lippenstift aus der Hosentasche und ärgere mich über meine eigene Nachlässigkeit. Die USA hat mich bereitwillig aufgenommen und nun spuckt sie mich in hohem Bogen wieder aus. In die Hosentasche passen jedoch nicht nur Auslöser von Ärgernissen und Erniedrigungen, sondern auch wunderbare Inspirationsquellen, on- oder offline. Das Sprachspiel Wordle erlaubt es mir, groß geschriebenen GRIEF ganz nebenbei in YEAST zu verwandeln.
Verena Mermer war von Jänner bis Mai 2025 Writer in Residence an der Bowling Green State University in Ohio.