Geschichte und Geschichten im Süden Spaniens
Die Route mit Zwischenlandung in Zürich bescherte mir einen nahezu wolkenfreien Blick auf die Alpen. Ich hing für die Dauer des Fluges am Fenster, photographierte die mächtigste und höchste Spitze, begriff erst auf dem Rückflug durch die Erläuterungen des Piloten, daß ich auf dem Hinflug den Mont Blanc gesehen hatte, von dem nicht klar ist, wem er gehört – den Franzosen oder den Italienern? Letztere glauben, die Grenze verlaufe über den Gipfel.
»Die Grenze« war auch das Thema der Tagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Bozen, zu der ich als Eröffnungslesende eingeladen war, weshalb ich – später als ursprünglich geplant – nach Spanien aufgebrochen bin. Und Bozen wiederum ist der Ort, an dem Leonor Sáez Méndez, Dozentin für Deutsche Philologie an der Universität Murcia, vor etwas mehr als zehn Jahren auf Stillbach oder Die Sehnsucht gestoßen ist, ein Roman, der durch verschiedenste gegenwärtige politische Entwicklungen, durch das Wiedererstarken der Rechten in Europa, eine neue, traurige Aktualität erfährt.
Hitler und Mussolini vereinbarten im Juni 1939, daß die deutsch- und ladinischsprachige Bevölkerung Südtirols entweder für die Emigration ins Deutsche Reich oder für den Verbleib im faschistischen Italien stimmen sollte. Immerhin – wenngleich durch Propaganda beeinträchtigt – gab es noch eine Wahlmöglichkeit zwischen Pest und Cholera.
Der amerikanische Präsident Trump schlug im Januar 2025 die Umsiedlung der im Gaza-Streifen lebenden Palästinenser vor. Sie sollten, so seine Idee, in die arabischen Staaten verbracht werden.
Für die »rassisch wertvollen« Südtiroler war, nach Hitlers Plänen, zum Zwecke der Germanisierung des Ostens, ein geschlossenes Siedlungsgebiet vorgesehen; im Gespräch waren Galizien, die Beskiden, Burgund und die Krim. Grenzen ignorieren oder Grenzen verschieben, war immer schon ein Ziel von Diktatoren. Und um ihre Macht zu festigen, arbeiteten sie auch mit religiösen Instanzen zusammen, so stärkte auch das Franco-Regime in Spanien durch die Kollaboration mit der Kirche seine Legitimität.
Die von Professor Leonor Sáez Méndez organisierte Tagung Jornadas Internationales: »Desde la Literatura Austriaca: Sabine Gruber – Colonialidad y Anatomía de futuro« fand in den Räumlichkeiten der Juristischen Fakultät von Murcia statt, diese befinden sich in einem ehemaligen Kloster des Mercedarierordens im Zentrum der Stadt. Man betritt die Vortragssäle über einen eindrucksvollen, zweistöckigen Kreuzgang, dessen Halbkreisbögen auf Marmorsäulen aufliegen.
Am vorletzten Tag, als der Kulturjournalist Manuel Madrid mich für die Tageszeitung La Verdad interviewte, erfuhr ich, daß der Konvent während der Guerra Civil als Krankenhaus gedient und daß der französische Photograph und Mitbegründer der Agentur Magnum, Henri Cartier-Bresson, hier gefilmt hatte.
1937 realisierte Cartier-Bresson, kurz bevor er zweiter Regie-Assistent bei Jean Renoir wurde, Victoire de la vie, einen Dokumentarfilm über die republikanischen Krankenhäuser Spaniens. Eines der Lazarette ist das Kloster La Merced. Der Film ist in der französischen Originalfassung auf YouTube abrufbar, der Konvent am Kreuzgang und an dem schmiedeeisernen Geländer sofort wiedererkennbar.
Dort, wo ich mit Professor Sáez Méndez und anderen Lehrkräften, mit Studentinnen und Studenten über meinen Roman Stillbach oder Die Sehnsucht und über die Folgen des Faschismus und Nationalsozialismus für Südtirol sprach, standen einst 360 Betten für die Kriegsopfer des Spanischen Bürgerkrieges. La Merced beherbergte 30 Operationssäle, eine eigene Radiologie und eine Prothesenwerkstatt für Amputierte. Cartier-Bressons Film ist ein wichtiges zeitgeschichtliches Dokument.
Für Daldossi oder Das Leben des Augenblicks – der Roman handelt von einem alternden Kriegsphotographen –, hatte ich mich intensiv mit der Dokumentation von Kriegsverbrechen beschäftigt, unter anderem auch Biographien von Kriegsphotographen und -photographinnen gelesen. Robert Capas Bilder vom D-Day in der Normandie und vom Spanischen Bürgerkrieg erlangten eine ikonische Bedeutung. Sein am 5. September 1936 entstandenes Photo eines fallenden republikanischen Soldaten wurde zum berühmtesten Bild der Guerra Civil.
Capa, wußte ich, war auch in Murcia gewesen, er photographierte Flüchtlinge aus Malaga. Und er verlor seine große Liebe, die Photographin Gerda Taro, an der Brunete-Front, sie wurde von einem republikanischen Panzer überrollt.
Murcia hat natürlich weit mehr zu bieten, als ein Kloster, das mich an frühere Roman-Recherchen erinnerte: so zum Beispiel das von dem spanischen Architekten Rafael Moneo entworfene Rathaus aus rosafarbenem Muschelkalk, das sich neben dem barocken Bischofspalast auf dem Cardenal Belluga-Platz befindet.
Moneo behauptet von sich, keinen persönlichen Stil zu haben, ein Glücksfall, denn er ließ und läßt sich völlig auf die örtlichen Begebenheiten ein, fand und findet immer neue Lösungsansätze, so daß die meisten seiner Bauten – besonders aber das Rathaus von Murcia – unaufdringlich präsent sind.
Den Konservativen und Traditionalisten der Stadt ist diese Art von Präsenz eines modernen Gebäudes ein Dorn im Auge.
Sie finden gewiß mehr Gefallen an den diversen Musikkapellen, die schon am Wochenende meiner Ankunft im Gleichschritt durch die Gassen marschierten, als übten sie für die in wenigen Wochen stattfindenden Osterprozessionen. An vorderster Front wurden Flaggen oder Heiligenfiguren getragen, letztere stammen meist von dem barocken, aus Murcia gebürtigen Bildhauer Francisco Salzillo y Alcaraz, dem die Stadt ein eigenes Museum gewidmet hat.
Man kann an den über 500 Figuren, die im Areal der San Andrés-Kirche ausgestellt sind, detailreich das Milieu des ländlichen Murcia studieren.
Leonor Saéz Mendéz begleitete mich noch einen halben Tag nach Cartagena; wir bestiegen einen der Hügel hinter dem Römischen Theater, das erst in den 1990er Jahren freigelegt wurde.
La Pequeña Marsella, wie das Viertel einst hieß, war das Quartier der Seeleute und Nutten. Es existiert nicht mehr, wurde aber lebendig in der Erzählung von Leonor Sáez Méndez, die hier als Kind an der Hand ihrer Tante, einer neugierigen Lehrerin, die an allem Interesse hatte, was unter Franco verboten war, an den Prostituierten vorbeispaziert war. Sie mußte der Tante versprechen, daß sie zuhause nichts von diesem Ausflug erzählte.
Von Cartagenas Kneipen sind nur noch wenige alte übrig, aber die Cafeteria Columbus (1931 gegründet) gibt es noch, der Wirt ist 78 Jahre alt und riet von seinem Beruf ab. Er hätte keine freien Tage, sagte er. Seine Weste war aus dem gleichen Grün wie die Thekenverschalung, wie die Stühle, die Tische, die Fenster- und Türrahmen. Der Señor hatte etwas von einem großgewachsenen Picasso an sich.
Ein gutes Geschäft, erfuhr ich, macht man in der Innenstadt nur mehr mit den Touristen und Touristinnen, die von den Kreuzfahrtschiffen, die in Cartagena anlegen, ins Zentrum ausschwärmen.
Mittags zeigte uns die Übersetzerin, Poetin und Anglistik-Dozentin von Cartagena, Natalia Carbajosa, die auch an der Tagung in Murcia teilgenommen hatte, die Universität, welche man in einem von Zwangsarbeitern errichteten Gefängnis untergebracht hat. Im letzten Stock, auf dem Dach der ehemaligen Anstalt, ist ein riesiger Arbeitsraum für Studentinnen und Studenten eingerichtet worden, die über die Glasfront einen grandiosen Blick auf die Hafenanlage haben. Einen schöneren Ort kann man sich fürs Studium kaum vorstellen.
Von hier aus brach Hannibal in den Zweiten Punischen Krieg auf.
Der Name des römischen Feldherrn Publius Cornelius Scipio Africanus, der Carthago Nova (Cartagena) überraschend schnell erobert hatte, war mir noch aus der Schulzeit in Erinnerung geblieben, auch die Geschichte der schönen Frau, die ihm neben Schätzen aus der Schatzkammer als Kriegsgeschenk überreicht wurde. Aber als Scipio Africanus erfuhr, daß sie die Verlobte eines keltischen Stammesführers war, gab er sie zurück. So jedenfalls schildert es Livius.
Sabine Gruber war von 5. bis 11. April 2025 auf Einladung des Österreichischen Kulturforums in Madrid auf Lesereise in Murcia, Spanien.
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Sabien Gruber: ©Naco Garcia -
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