»No«, die wütende Frau lässt ihre Hand geräuschvoll auf die Theke der Autovermietung niedersausen. Sie ist schmal gebaut, hat kinnlanges Haar und trägt Baggy Pants. Neben ihr steht ein großer roter Koffer.
Die Frau brüllte bereits, als wir vor zehn Minuten die Halle mit den Mietwagenschaltern am Flughafen Olbia betraten, seitdem hat sich ihre Wut und Lautstärke aber kontinuierlich gesteigert.
»Schau«, habe ich nach der Landung zu meiner besseren Hälfte gesagt, und auf die entlang des Flugfeldes aufgereihten Oleanderbäumchen in Terracotta-Kübeln gezeigt, »hier ist jetzt schon alles ganz anders.«
Wir haben unser Gepäck eingesammelt und sind durch den Sonnenuntergang hierhin getrottet, wo die bessere Hälfte seither in einer Schlange wartet, um Mitwagenangelegenheiten zu klären. Davon bekomme ich aber nicht mehr viel mit, weil ich der neugierigste Mensch der Welt bin und nicht aufhören kann, die brüllende Italienerin anzustarren. Was zur Hölle, denke ich, hat die Frau denn so wütend gemacht?
Die junge Mitarbeiterin mit dem blonden Pferdeschwanz hinter dem Schalter der Autovermietung kann der Frau offensichtlich nicht weiterhelfen und macht einen halbherzigen Versuch, sich dem nächsten Kunden zuzuwenden. Doch das lässt die Brüllerin nicht zu. Mit einem Wutschrei durchbricht sie das nächste Verkaufsgespräch und beginnt ihre Leier von neuem. Dabei scheint es ihr völlig gleichgültig zu sein, dass mehr und mehr Leute in ihre Richtung schauen. Die italienische Großfamilie mit dem auf einem Rollkoffer in Löwenform sitzenden Kleinkind starrt genauso, wie die britische Junggesellentruppe starrt, wie ich selbst starre. Gewissermaßen bin ich ja auch beeindruckt.
Jetzt tut sich etwas. Die Menschentraube vor dem Schalter öffnet sich. Die Pferdeschwanzmitarbeiterin marschiert, dicht gefolgt von der Brüllerin, in die Halle hinein. Gemeinsam steuern sie auf einen anderen Mietwagenschalter zu, hinter dem eine ältere Frau sitzt. Ein paar Worte werden gewechselt, dann lässt die Pferdeschwänzerin (=Mitarbeiterin 1) die Brüllerin sichtlich erleichtert mit ihrem neuen Opfer (=Mitarbeiterin 2) zurück. Die beiden unterhalten sich erst in einer moderaten Lautstärke – ich versuche alles aus meinem vertrockneten Schulitalienisch herauszuholen und verstehe trotzdem nichts – doch wenige Augenblicke später beginnt die Frau schon wieder zu schreien. Sie klatscht auch der neuen Theke eine nach der anderen, schreit Mitarbeiterin 2 erst durch das Plexiglas hindurch an, beugt sich dann um die Schutzwand herum und brüllt ihr mitten in ihren Rückzugsbereich hinein.
Zu diesem Zeitpunkt versucht niemand in der Wartehalle mehr so zu tun, als würde er nicht gaffen. Die dauergewellte italienische Mama des Löwenrollkofferkindes schlendert sogar lässig zu einem Mitarbeiter von Schalter 1 und lässt sich aus erster Hand Backgroundinfos geben.
Nun kommt es zu einer unerwarteten Wendung. Mitarbeiterin 2 legt ihre Servicemaske ab und was kommt dahinter zum Vorschein? Eine zweite Brüllerin. Mindestens genauso laut wie Brüllerin Nummer 1, legt Brüllerin Nummer 2 nun los.
»No!«, ruft sie, klatscht (es scheint obligatorisch zu sein) mit der Hand auf die Theke, und setzt dann noch zwei weitere formvollendete »No!« hinterher.
Die darauffolgende Tirade kann ich zwar schon wieder nicht übersetzen, ihr Inhalt ist aber universal verständlich. Was glaubst du, wer du bist? Mich haben schon ganz andere angeschrien!
Nach dem Statement von Brüllerin 2 scheint Brüllerin 1 tatsächlich geläutert. Sie reduziert ihre Lautstärke dramatisch und verlegt sich aufs Winseln.
»Bitte, bitte«, sagt sie auf Italienisch, doch Mitarbeiterin 2 schüttelt entschlossen den Kopf. Mit einer Handbewegung verweist sie die Rüpelin ihres Schalters. Halb brüllend, halb winselnd steuert diese nun einen Mietwagenschalter nach dem anderen an. Alle haben aber alles mitbekommen und weisen sie umgehend ab.
An diesem Punkt legt meine bessere Hälfte mir die Hand auf die Schulter. Die Mietwagenangelegenheiten seien geklärt, wir könnten fahren. Ich will nichts davon wissen und hechte stattdessen zu der italienischen Familie mit dem Löwenrollkofferkind.
»Was hat die Frau?«, bemühe ich das Schulitalienisch und la famiglia beginnt sofort wild durcheinander zu erzählen.
Die dauergewellte Mama übersetzt mir alles ins Englische.
»Die Frau«, sagt sie, »hat einen Kindersitz gebucht. Aber sie haben keinen mehr.«
Unser Urlaubsort, La Caletta, ist ebenso charmelos wie unser über Airbnb gebuchtes Domizil. Um sieben Uhr morgens werden wir von der angrenzenden Baustelle geweckt.
»Unfortunately, we cannot do anything about the construction site«, schreibt die Airbnb-Vermieterin wenig schuldbewusst.
Wir essen schlecht, essen noch einmal schlecht, gehen zu einem drei Meter hohen Turm, fahren in ein Bergdorf und essen endlich gut. Handgemachte Pasta mit Wildragout, mariniertes Schwertfischragout, die Wirtin hat dreißig Jahre in Karlsruhe gelebt und spricht mit badischem Akzent. Wir kommen an einer Kirche vorbei, in der ein kunstbegeisterter Physiker seine privaten Urlaubsbilder und Photoshop-Experimente ausstellt. Seine Kunst ist wenig bemerkenswert, aber der Physiker selbst ist es. Er erzählt, dass er in den Siebzigerjahren Laserforschung betrieben habe, momentan aber eher darüber sinniert, wie seine Zukunft nach der Parkinsondiagnose aussehen wird. So oder so müsse er jetzt aber auch die Kirche zusperren, denn seine Frau warte zu Hause mit dem Essen und frage sich sicher schon, wo er bleibe.
Ich mache einen Deal mit der Vermieterin. Wir dürfen die Unterkunft früher verlassen und bekommen das Geld für die restlichen Tage erstattet. Im Gegenzug verspreche ich, keine negative Bewertung online zu stellen. Wir finden eine neue Unterkunft im Süden der Insel. Hier sieht es aus wie an einer irischen Küste, nur mit besserem Wetter. Wie in Irland werden den Besucher*innen auch auf dieser Insel mehr Schafe als menschliche Bewohner*innen versprochen. Ich treffe keine Schafe an, wie auch keine Flamingos oder Esel, aber die Tourist Informations sind sich einig: Sie sind ganz sicher da.
Unsere neue Unterkunft ist schön. Es handelt sich um einen Bungalow in einem Feriendorf, das einst extra für die Filmcrew des sehr berühmten Italowesterns errichtet wurde, an dessen Titel sich der neue Vermieter aber partout nicht erinnern kann. Ich google nach dem Film, finde nichts heraus, dafür aber einen Artikel, der so einige berühmte Filme aufzählt, die auf Sardinien gedreht worden sind, einen James Bond zum Beispiel. Wir essen einen rot-weiß gestreiften Kuchen, der Amerikaner heißt und Culurgiones – mit Kartoffeln und Minze gefüllte Teigtaschen – die im Grunde schmecken wie Kärntner Kasnudeln.
Am zehnten Tag fahren wir endlich nach Gavoi. Gavoi ist ein Bergdorf, in dem das L’isola delle storie (also: Insel der Geschichten)-Festival stattfindet, zu dem mich das österreichische Kulturforum Rom eingeladen hat. Zusammen mit den italienischen Festivalgästen sind wir in einem Hotel am Gusaner-Stausee untergebracht, zwischen dem und dem Bergdorf wir nun ununterbrochen mit einem Shuttle Service hin- und hergeschifft werden.
Als wir am Ankunftstag zur Eröffnungsveranstaltung gehen wollen, erkennt mich die Festivalchefin nicht. Freundlich weist sie mich mehrmals am Eingang ab, das sei eine geschlossene Veranstaltung, nichts für Touris, bis ihr die Tomaten von den Augen fallen und sie sich für die Verwechslung entschuldigt. Beim Hineingehen sage ich meiner besseren Hälfte, dass es nun aber wirklich Zeit für neue Autorinnenfotos wird. Hübsch auf Bildern auszusehen, aber dann dafür im echten Leben gar nicht mehr erkannt zu werden, bringt dem Ego ja auch nichts.
Wir lernen Ada vom österreichischen Kulturforum kennen, die ich sofort in mein Herz schließe. Ada ist zwar Römerin, aber auch Halbtirolerin, und seit sie mit lauter Wienerinnen im Kulturforum zusammenarbeitet, spricht sie Deutsch mit wienerischem Akzent, was wiederum ihre Tiroler Mutter gar nicht freut. Ada steht uns mit Rat und Tat zur Seite, stellt uns italienische Kolleg*innen vor, übersetzt, wenn nötig, und dolmetscht schlussendlich auch meine Veranstaltung mit der italienischen Moderatorin Sarah Savioli und der slowakischen Autorin Jana Karšaiová auf einer der Freiluftbühnen.
Während des Gesprächs brummen meine Gedärme vom köstlichen Spezialitätenbuffet, das mehrmals täglich vom Festival gestellt wird. Ich merke, dass mein Schulitalienisch doch solider ist, als initial angenommen. Während ich einem Dialog zwischen Sarah und Jana lausche, lasse ich den Blick über das Publikum schweifen, beobachte wie sich die untergehende Sonne über die steinernen Dorffassaden legt und den dunkelgrünen Berghängen Kontur verleiht, und denke bei mir:
Autorin. Gar kein so schlechter Beruf.
Auf Einladung des ÖKF Rom nahm Angela Lehner im Juli 2024 am Literaturfestival ›L’Isola delle Storie‹ in Gavoi auf Sardinien teil.