Was Wirklichkeit geworden ist
Neun Jahre. Das ist eine lange Zeit und gleichzeitig ein Moment. Vor neun Jahren war ich zuletzt in Prishtina und kann es kaum fassen, dass diese Aussage wahr ist. Ich gebe sie dennoch als Antwort auf die Frage, ob ich schon einmal hier gewesen bin. Ja, vor neun Jahren. Damals war mein Kind eins. Er fing gerade an zu reden und sagte zwischen den deutschen auch albanische Wörter. Ujë, sagte er, Wasser. Shishe, sagte er, Flasche. Wir waren zwei Monate hier als writer-in-residence. Ich kaufte meinem Sohn albanische Bilderbücher und las sie ihm vor. Er war glücklich in dieser Stadt, an der es an allen Ecken etwas zu entdecken gab. Aus meiner Sicht etwas Schmutziges, aus Babysicht etwas Faszinierendes. Ich erinnere mich, wie er einmal nicht mehr von einem Parkplatz wegzubringen gewesen ist, weil dort so viele spannende Dinge auf dem Asphalt zwischen den Autos lagen. Am liebsten hätte er sie alle in den Mund gesteckt. Ich erinnere mich, wie er in seinem Buggy schlief, während ich ihn über holprige zerbrochene Gehsteige schob, während ich in einem Restaurant albanische Kolleg*innen traf. Wie bei einer Lesung extra eine deutschsprachige Babysitterin organisiert worden war, wie sie nach ungefähr zehn Minuten mit dem brüllenden Kind den Saal betrat und alle wie aus einem Mund sagten: Lasst das Kind zu seiner Mutter. Den Rest der Lesung saß er auf meinem Schoß und blickte frohgemut ins Publikum. Inzwischen sitzt er in der Schule und konnte mich folglich diesmal nicht auf meiner Reise begleiten. Ich hätte nicht gedacht, dass es so lange dauern würde, bis ich wiederkomme. Prishtina ist schließlich kaum mehr als eine Flugstunde von Wien entfernt. Nun bin ich hier, stehe am Boulevard, wie damals. Bis zu meiner ersten Veranstaltung, einem Übersetzungsworkshop an der Germanistik der Universität Prishtina ist noch etwas Zeit. Ich gehe den Boulevard entlang.
Mit einem Boulevard und einem Fernsehbildschirm, auf dem Ameisen zappeln beginnt der Lyrikband Der Schlaf des Oktopus der in Prishtina lebenden Schriftstellerin Ervina Halili, den ich die Freude hatte, ins Deutsche zu übertragen. Der folgende Text ist eine Ode eines Gedichtes an sich selbst. »Ich Gedicht eremitischer Vers/vager Reim im Mund des kurzsichtigen Propheten/Tattoofarbe am göttlichen Rücken Ewigkeitswappen/alle Straßen der Welt münden in mich/ich bin alle/Straßen«, spricht das Gedicht zu den Leser*innen.
Der Boulevard ist alle Straßen, denke ich, den Boulevard entlang gehend. Der Boulevard weiß von Gräueln, Grausamkeit, Morden, Kriegen, Luftverschmutzung. Der Boulevard ist autofrei. Immer noch spielen hier von früh bis spät Kinder, gibt es Ballons zu kaufen, Süßigkeiten, Bälle, die sich verfärben, wenn sie springen. Miniautos sind zu mieten, auf denen die Kleinsten in der Fußgängerzone ihre Fahrtechnik erproben.
Was hat sich geändert, seit du zuletzt hier warst, werde ich später beim Abendessen gefragt.
Spontan denke ich zuerst: nichts. Es ist alles, wie es war, vor einem Moment, vor nur neun Jahren. Ich sitze im selben Restaurant, in das ich auch damals eingeladen wurde. Das Essen ist genauso gut, die Einrichtung noch immer bezaubernd, die Kellner freundlich wie selten woanders. Doch dann denke ich, nein, es hat sich etwas ganz grundlegend geändert.
Dass es sauberer geworden ist, wollen die Leute gerne hören. Und das stimmt auch. Ja, es ist sauberer geworden. Mein Baby von damals würde heute weniger spannende Müllstücke am Boden finden. Die Gehsteige wurden geglättet. Die Luft ist auch besser. Erst am dritten Tag spüre ich den Hustenreiz, der mich vor neun Jahren auf allen meinen Wegen in Prishtina begleitete.
Was ich aber vor allem wahrnehme ist, dass die Menschen optimistischer geworden sind. Anders als in dem Europa, aus dem ich hierher geflogen bin, dem Europa, dessen Reisepässe in der ganzen Welt gelten, was für kosovarische Pässe leider noch immer nicht Wirklichkeit geworden ist, orientiert sich die Stimmung hier nicht auf einen Weltuntergang hin. Ganz im Gegenteil.
Dieser Optimismus manifestiert sich auch in ganz konkreten Handlungen. Haben Sie schon einmal daran gedacht, einer Schriftstellerin einen Stift zu schenken? Einen schwarzen Schreiber mit silberfarbenen Verzierungen. Ich vermute nicht. Tatsächlich bekomme ich nach der Lesung am Institut für Deutsche Sprache und Literatur der Universität Prizren das erste Mal in meiner zwanzigjährigen Laufbahn als Schriftstellerin einen Stift geschenkt. Und das ist noch nicht alles. Ein Buffet wurde organisiert, die Student*innen brachten Snacks, Kuchen und Getränke mit. Sogar eine Führung durch die Stadt bekomme ich, an wichtigen historischen Orten und vor Denkmälern werden in einwandfreiem Deutsch Referate vorgetragen – speziell für mich. Noch spezieller sind die weiteren Geschenke, die ich erhalte. Während wir spazieren, zur katholischen Kirche, zur Moschee, werden mir kleine Päckchen zugesteckt. Es sind Kühlschrankmagneten, ein goldener in der Form des Landes Kosovo, ein anderer mit einem Relief von Prizren, in Pastellfarben: die Brücke, die Moschee, der Fluss, grüne Hügel. Aus einem weiteren Päckchen offenbart sich eine Geldbörse, ebenfalls mit den Umrissen der Stadt. »Damit du immer genug Geld hast«, sagt die junge Frau, die mir die Börse spontan in einem der vielen Souvenirläden gekauft hat. Noch nie bin ich von einer Lesereise so reichbeschenkt zurückgekehrt.
Ein Foto von diesen Tagen gefällt mir am besten, ich habe es in der Kunstgallerie im Komplex der Gebäude des Albanischen Bundes von Prizren/Lidhjes së Prizrenit aufgenommen: Studentinnen vor einem Gemälde mit albanischen Helden, bereit ihr Land zu verteidigen – Männer mit Gewehren. Die Waffen der jungen Frauen sind weiße Turnschuhe, verzierte Handtaschen, ein strahlendes Lächeln und ein wacher Geist. Diese Frauen sind die zeitgenössischen Heldinnen des Kosovo.
Andrea Grill verbrachte von 19. bis 21. Mai 2025 auf Einladung der Österreichischen Botschaft eine Lesereise in Prishtina, Kosovo. Im Zuge dessen wurden ein Übersetzungsworkshop sowie zwei Lesungen veranstaltet.