Kairo und New York — zwei Fernen
Fernweh wird gestillt, wenn meine Zimmerpflanzen so groß werden wie die Bäume. Das passiert mir in Kairo. Wenn ich mir sage, merke ich: Was mir passiert, ist dort schon geschehen.
Aber die Zeit verläuft auch in vielen anderen Hinsichten anders. Ich weiß noch nicht, wie man hier die Zeit misst, aber ich fühle: Meine Uhr geht hier nach. Und ich vermute: Vier Stunden in Kairo sind acht Stunden in Wien. So vermute ich, weil ich in Wien bei 30 Grad nach acht Stunden zu stinken beginne und in Kairo nach vier.
Das mit der Zeit ist das Zweite, das mir auffällt und das Erste, das ich niederschreibe. Gleich schon in Kairo schreibe ich es nieder und nicht erst später, wie normalerweise, wenn die Zeit normal verläuft. Als ich es niederschreibe, im gleichen Moment, bekomme ich per SMS die Antwort von einem Freund: »Bist du dort auf der Suche nach Kairós?«
Der Zufall gibt dem Wortspiel Gewicht. Und ich lerne: Viel Gewicht auf dieser Welt kommt einfach nur von den zeitlichen Übereinstimmungen.
Das mit dem Stinken ist übrigens kein Auflehnen gegen die Poesie, nein, nein, ist es nicht. Ich möchte wirklich darüber reden. Ich merke in Kairo, was ich schon in New York bemerkt habe. Der Himmel ist so hoch, dass man nie bis zum Himmel stinken kann. Parfum finde ich in Wien aufdringlich, in New York bade ich darin und es ist OK. Die Farbdissonanzen meiner Kleidung sind genauso OK und auch die Tanzschritte am Gehsteig. Nichts fällt auf. Der Schritt des Jazztanzes pas de bourré wurde auf den Newyorkerstraßen erfunden, denke ich; obwohl mir das französische Wort widerspricht, denke ich das, denn so will ich gehen.
Alles ist groß und laut hier. Irina erzählt mir, alle Zikaden auf der Welt schlüpfen zur gleichen Zeit alle 17 Jahre. Das war vor Kurzem wieder so, und sie waren lauter als Autos, man konnte im Freien nicht telefonieren, meinte sie. Fernweh wird gestillt, wenn Zikaden lauter als Autos werden. Es gab so viele, dass Eichhörnchen davon dick wurden und sich so vermehrt haben, dass sie nicht mehr süß sind.
Als ich das Wort Eichhörnchen zum ersten Mal auf Deutsch gehört habe, dachte ich, es ist ein kleines Einhorn, ein Einhörnchen. Vielsagend finde ich das. Dass ich das ausgedachte Tier vor einem echten kannte beziehungsweise vermutete.
Ich stelle fest, ich bin älter geworden. Ich erinnere mich, als ich als Kind gehört habe: Du bist alt, wenn jeder neue Mensch dich an jemanden, den du kennst, erinnert. Ich bin also alt und Irinas märchenhaft weißes Haar erinnert mich an das Mohameds. Er macht die Tür der Residenz auf, als ich ankomme. Von innen macht er die Tür auf, muss ich präzisieren, ich merke gerade, dass jede Tür zwei Seiten hat wie eine Münze.
Als ich ihn sehe, denke ich mir wegen der Weißheit seines Haars: Er schaut nicht ägyptisch aus. Er sagt laut: »Du schaust sehr ägyptisch aus.« Weil ich das nicht glaube, ziehe ich es in Betracht, dass ich mich genauso irre, dass wir uns also beide irren, dass wir uns spiegeln und irren.
Er ist oft in der Residenz, um ihn sammeln sich junge Maler, Musiker, Schriftsteller. Sie schauen aus, als wären sie unter seinen Fittichen. (Was meint die Sprache hier? Bruthenne oder Engel?)
Eine Gruppe junger Musiker macht am ersten Abend Musik. Wie schön, denke ich. Statt des Radios —Trommeln und Laute. Auch mit Lauten wird Fernweh gestillt. Es ist aber eine Probe, und sie spielen zwei Stunden das gleiche Lied, das zum Ohrwurm meiner ägyptischen Reise wird.
Laute kommt aus dem Arabischen und bedeutet Holz. Dass Holz Laute erzeugt, finde ich an sich schön. Ich stelle mir vor, mein Ohrwurm ist ein Holzwurm.
Meine Residenz liegt am Ufer des Nils, will ich sagen, um mich wie in einem Mädchen zu fühlen, das das einmal gesagt haben möchte. Zwischen mir und dem Nil ist in der Tat nichts als eine dreispurige Straße, aus der die Fahrer gerne fünf bis sechs Spuren machen.
Man darf wahrscheinlich auch als Kind hier über die Linie malen.
Als Mohamed zu einer Ausstellungseröffnung geht, schließe ich mich an. Am meisten bin ich dort von den gehäkelten Bildern einer älteren Frau angezogen, bei einem fließt der Fluss in losen Fäden aus dem Rahmen. Dann gehe ich an Omar Scharif in Öl vorbei und gelange zu einer Darstellung der Revolution. Ich versuche zu deuten. Es ist Stunde 12 dieser Zeit, Stunde 24 meiner Zeit. Ich stinke. Ich sehe Tanks aus Plastik und Blut aus Farbe. Ich starre einfach hin, weil ich überwältigt und übernächtigt bin. Die Künstlerin zeigt auf den Tisch daneben, an dem es glitzert, und sagt: »Ich mache auch Taschen.«
So ist die Welt. Es gibt Krieg, aber auch Accessoires.
Ich merke: Auf meinen Reisen habe ich aufgehört, Selfies zu machen. Ich erzwinge einen Sinn. Ich fühle mich tatsächlich unsichtbar. Vielleicht mache ich doch Selfies, nur schauen sie aus wie Fotos?
Ein wirkliches, solides Selfie mache ich dann mit meinem Mann. Als ich nach New York eingeladen wurde, ist das unser 20. Jahrestag. Wir sitzen auf der Treppe vor dem Hostel, in dem wir uns kennengelernt haben. Wir wussten nicht, wir werden heiraten, ich wusste nicht, ich werde mal auf Deutsch mit ihm sprechen, ich wusste nicht, ich werde in 20 Jahren im österreichischen Kulturforum in New York etwas vorlesen, das ich geschrieben haben werde. Die Rezeptionistin meint »You guys are wonderful«. Auch sie weiß nicht, wo sie in 20 Jahren sein wird.
»They are wonderful dogs«, sagt der Mann, den ich in der Nacht in Kairo treffe. Sein Rudel tut nichts, sagt er, als die sieben bellenden Straßenhunde, die er betreut, mich umkreisen. Sie riechen das Katzenfutter in meinem Rucksack, nehme ich an, ich leere ihn aus. Eine kleine Notiz ist dem Futter irrtümlich beigemischt, aber das macht nichts — ich habe genug andere Eindrücke. Alle essen, nur Rico schaut mich regungslos an. Ich streichle ihn und dann noch alle anderen. Der Mann beschreibt das Wesen jedes einzelnen. Sie werden zweimal im Monat gebadet, sagt er am Schluss. Sie stinken weniger als ich. Wenn es nicht mein letzter Tag gewesen wäre, würde ich beginnen, auch Hundefutter zu kaufen.
Ich liebe alle Hunde, weil sie mich an meinen erinnern. Es erinnern mich aber nicht alle Menschen an alle anderen. Immer nur einer an einen anderen und auch das erst, seit ich älter bin. Und die Liebe ist nicht übertragbar.
Am Abend kämme ich den Staub aus meinem Haar.
Oder ist es Sand?
Die Wüste lockt mich an wie jede Leere.
Ana Marwan war von 14.-19. Oktober 2024 in Kairo sowie von 11.-17. April 2024 in den USA.