Nach dem schweigsamen Uber-Fahrer ist es die Katze, die mich nun die Straßen entlangführt. Hin und wieder bleibt sie kurz stehen und blickt mit ihren stechend türkisen Augen zurück. Wir wissen beide nicht, wer hier wem folgt, aber als ich mein Handy heraushole, ist sie bereits durch einen Zaun meinem Blick entschlüpft, den nun gefrorenes Efeu umrankt. In Mäuseschritten tripple ich vorwärts und muss instinktiv an meine Babuschka denken, wie sie sich an meinen Oberarm klammerte, als wir uns bei meinem letzten Besuch in Wolgograd vor über zehn Jahren behutsam die vereisten Straßen entlang tasteten. Für einen einzigen Meter brauchten wir zehn, manchmal auch zwanzig Sekunden. Wie deutsch von mir, alles in Zeit durchzutakten, wie peinlich. Ich bin doch mitten in Bukarest und plötzlich in einem schweigenden Marsch von mit Ukrainefahnen ummantelten Menschen, die wie freundliche Gänsesoldaten in braver Zweier-Reihe den Gehsteig entlang hasten, alle fünf Meter flankiert von einem Gendarm links, einem Gendarm rechts. Ich werde zu einer von ihnen und denke an meine Schwester und daran, was sie gerade denken würde, wenn sie mich nun so sähe. Ob sie einfach neben mir hergehen, irgendwann meine Hand nehmen und mir endlich von ihrer Kindheit auf der Krim erzählen würde. Der Schweigemarsch biegt ostwärts ein, aber mich lockt die Sonne in den Westen.
Am Abend schließe ich mich einer Gruppe Schüler*innen an. Es sind meine Schüler*innen. Da ist Paula, die Demokratie als eine blonde und blauäugige Frau beschrieb, weil sich Himmel und Horizont in ihren Augen widerspiegelt. Als egozentrisch, weil sie sich für die beste hält und nur ihre Meinung zählt. Daneben Nora, die in der Demokratie einen alten Mann sah, der stets einsam auf seinem Balkon sitzt, und gegen die Wand redet, unaufhörlich murmelt, aber niemand hört ihn. Für Dora wird Demokratie hingegen durch einen nervigen Teenager verkörpert, ein Mann mit strotzendem Selbstbewusstsein, das Zentrum aller Aufmerksamkeit, der Playboy der gesamten Schule, der auf alles etwas zu entgegnen weiß und trotz seiner Gehässigkeit der beliebteste Junge bleibt. Und da ist das Mädchen mit dem glänzend schwarzen Bob, das viel zu viel Angst immer hat aber mutiger ist als der Rest von allen, und das so treffend meinte, dass die Demokratie, egal wie viel Schmutz manchmal von ihr trieft, trotzdem die einzige Möglichkeit darstellt. Rumänien besteht aus Frauen, die sich nichts einreden lassen. Die Männer nicken und lächeln und überlegen fieberhaft, was sie in den letzten zehn Jahren verpasst haben. Aber sie haben nichts verpasst, bloß nie genau hingesehen.
Der Deutschlehrer mit der Brille erzählt mir von Papanași und Bulz, Sarmale und Mămăligă. Vom Pferdewagen mit Bier, den an den Seiten der Transfogarascher Hochstraße wartenden Bären, die auf Speisereste von Touristen hoffen, und von den Essensmarken, mit denen er sich als Junge um 5 Uhr Früh anstellte, um Milchprodukte zu kaufen. So viele Kirchen ließ Ceaușescu abreißen und trotzdem trauern so viele Ältere noch um ihn, wenn sie sonntags den Gottesdienst verlassen und sich abends zum Gebet niederknien. Von diesem Gebäude da, sei er geflohen. Mit dem Hubschrauber. Direkt von dem Dach. Eine Gänsehaut läuft unsere Arme hinab und ich versuche sie abzuschütteln. Diese instinktive Verbindung, die ich zu allem empfinde, was sich östlich von Österreich befindet. Warum sind sich alle sowjetischen Väter auch immer so ähnlich? Sie tragen den Staub der Geschichte wie Broschen auf ihren Mänteln, ziehen die Stirn bedeutungsschwanger in Falten und seufzen bevor sie zum ersten Satz ihres Monologs ansetzen. Sowieso endet dann alles immer bei Schach, Alkohol oder Marx, aber nur selten mit einem echten Lächeln. Dabei klingt rumänisch gar nicht nach russisch, sondern vielmehr nach portugiesisch oder gar sardisch. Als ob an Rumänisch all die Farben anderer Sprachen abblättern, sich vermischen bis sie zu einer Einheit werden, und am Ende bleibt nur der Versuch richtig zu sehen. Schon als Kind konnte ich nie die allgemein vorherrschende Faszination um Französisch oder Spanisch verstehen. Italienisch fand ich schön, italienisch und rumänisch. Rumänisch, fragte man mich dann überrascht. Ja, rumänisch, antwortete ich immer bestimmt und wusste selbst nicht warum. Warum ich so gerne der Rumänin in der Klasse zuhörte, wenn sie mit ihrer Mutter telefonierte, und den sonntäglichen Liedern der rumänischen Gemeinde lauschte, die bei uns ums Eck lag. Warum ich mich in dieser Sprache, die ich kaum verstehe, so zuhause fühle. Vielleicht, weil sie an den Rändern meiner Kindheit schimmert, weil sie nach Orten klingt, die ich nie besucht, aber die, wenn man dann dort steht, trotzdem irgendwie vertraut wirken. Vielleicht, weil sich in jedem fremden Wort ein Echo der eigenen noch unentdeckten Geschichte versteckt. Also kuschle ich mich in den bedeutungsverschlüsselten Klang von Lauten und lasse meine eigenen Gedanken dagegen klatschen bis sie zerschellen und sich die Splitter in wohlgefällige Stille auflösen. Und dann sind da nur ich und rumänisch und wir schweigen uns an und genießen unsere jeweilige nichtssagende Anwesenheit bis mich etwas an der Wade streift. Es ist jene Katze, die mich am ersten Morgen durch die Gassen begleitete. Ihr Blick trifft für einen Moment den meinen, doch da ist die Berührung schon vorbeigezogen. Sie verschwindet in der Menge und ich mit ihr und Bukarest bleibt.
Die Leidenschaft, den anderen zu entdecken, in seiner Heimat. Ideen, Empfindungen, Klänge, Freundschaften, die durch den Kontakt zweier Kulturen entstehen, starke Erinnerungen, die man aus Rumänien mitnimmt, all diese Elemente finden sich in »Begegnungen. Eine literarische Reise österreichischer Autor*innen durch Rumänien«, ein Projekt, das Ihnen das Österreichische Kulturforum Bukarest empfiehlt. Diese Mikro-Journale wurden auf Initiative der Leiterin der Österreich-Bibliothek in Cluj-Napoca, Prof. Laura Laza, ins Leben gerufen und werden mit Unterstützung der Österreichischen Gesellschaft für Literatur und des Österreichischen Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten präsentiert.