Man müsse – so dachte Carolina Schutti sofort, als sie die Ausschreibung zu den ›Internationalen Literaturdialogen‹ gesehen hatte – die Gelegenheit am Schopfe packen und Herzensprojekte einreichen, »die so dahinschlummern, die man immer wieder hinausschiebt, weil keine Zeit, kein Geld, keine Gelegenheit da sind.« Ein solches ist das in diesem Rahmen gerade entstehende bilinguale intermediale Lyrikprojekt »Your eyes might be open, they might be closed«, welches für Carolina Schutti einerseits die Gelegenheit darstelle, sich selbst wieder einmal dazu zu zwingen, Lyrik zu schreiben – zu der es sie zwar immer wieder hinziehe, vor der sie aber auch eine ganz große Ehrfurcht habe. Andererseits sei es aber auch die Chance, intermediales Arbeiten »einmal so wirklich auskosten zu können, gemeinsam mit einer Kollegin, die auch Musikerin ist, und dann ein richtig verrücktes Projekt umzusetzen.«
Die erwähnte Kollegin ist die britische Übersetzerin und Lyrikerin Jen Calleja, mit der es, wie uns Carolina Schutti erzählt, schon beim ersten Kennenlernen sofort »gefunkt« habe. Im Leben beider spielen Musik und musikalische Strukturen eine sehr wichtige Rolle. Während die eine (Schutti) aber in einem Barock-Ensemble singt, ist die andere (Calleja) Schlagzeugerin und Sängerin einer Punkband. Zwei Frauen also, die in all ihrer Verschiedenheit dennoch viele Berührungspunkte haben, was auch den besonderen Reiz dieses Projekts darstellt.
STANDORTBESTIMMUNGEN
Der thematische Ausgangspunkt des Projekts ist ein Zitat von Jen Calleja. Die Zukunft, so Carolina Schutti, werde kommen, »doch werden wir ihr sehenden Auges begegnen, oder den Kopf in den Sand stecken?« Die intensive Beschäftigung mit dem Individuum in der Gesellschaft und den an es gestellten Erwartungshaltungen ist eine, die sie mit ihrer Kooperationspartnerin teilt. Inhaltlich werde es daher bei den beiden Lyrik-Zyklen, die im Rahmen des Projekts entstehen, stark um eine Gegenwartsverortung gehen, und um »die Blasen, in denen man steckt, die immer weiter voneinander wegtreiben«, wie Carolina Schutti erklärt:
»Wir denken darüber nach, was passiert, wenn diese Blasen sich noch weiter voneinander entfernen. Wenn sie immer weiter voneinander wegdriften, was hält uns dann eigentlich noch zusammen? Gibt es den point of no return, wo dann jede Blase allein im Kosmos schwebt?«
Wie sie uns schon verraten hat, stellt Carolina Schutti in den Mittelpunkt ihres Lyrik-Zyklus die Tatsache, dass heutzutage viel von einem Individuum erwartet werde, da man ja alles machen könne. »Man sagt«, so die Schriftstellerin, »streng dich nur an, du kannst alles werden, was du willst, aber das ist natürlich eine Bürde und unmöglich.« Worüber Jen Calleja schreibe, habe sie bis vor kurzem nicht gewusst, denn die beiden Dichterinnen haben zu Beginn des Projekts beschlossen, sich inhaltlich nicht auszutauschen, bevor der Schreibprozess abgeschlossen sei, und einander die fertigen Texte erst an einem gewissen Stichtag zu schicken: »Wir haben ganz bewusst gesagt, jede schreibt aus ihrem Kosmos heraus und wir schauen dann, wo wir uns treffen.«
ÜBER SETZEN
In einer zweiten Etappe des Projekts, die vor kurzem begonnen hat, übersetzen die beiden Autorinnen die Gedichte der jeweils anderen in die eigene Sprache. Im Gegensatz zum üblichen Arbeitsmodus von Übersetzer*innen, die sich zumeist ohne Nachfrage bei den Schriftsteller*innen für die Bedeutung eines Wortes entscheiden, soll dieser Prozess jedoch ein partnerschaftlicher sein, bei dem der wechselseitige Austausch und das gemeinsame Finden von Lösungen im Vordergrund stehen – ein »Dialog im schönsten Sinne«, wie Carolina Schutti meint. Dies sei besonders bei Lyrik spannend, denn diese sei, wie sie weiter ausführt, eigentlich unübersetzbar. Im Grunde entstehe auf diese Weise ein neuer Text, sodass übersetzen auch immer über setzen bedeute:
»Es ist, wie wenn ich in ein Boot steige und auf die andere Seite hinübersetze. Ich komme als Ganzes an, aber in verwandelter Form, denn jede Reise verwandelt einen.«
Das Ziel dieses Prozesses? – Entstehen soll ein klangvolles, schönes Gebilde, auch in der anderen Sprache. Hier sei die Tatsache, dass beide Kooperationspartnerinnen auch Autorinnen sind, ein großer Vorteil, da sie nicht nur die Korrektheit der Übersetzung, sondern auch die Ästhetik des Textes als Ganzes immer mitbedenken.
KLANGWELTEN
Ein weiterer Schritt ist das Zusammenbringen der beiden Welten, das Zusammenfügen der (Original)-Texte. Zwar werden die Gedichtzyklen einzeln hintereinanderstehen, dort wo die bereits erwähnten beiden Blasen jedoch aufeinanderprallen, solle das Andocken sichtbar gemacht werden. Diesen Andockpunkt werden Gedichte darstellen, welche die österreichische Autorin und ihre britische Kooperationspartnerin gemeinsam schreiben möchten. Indem deutsche Verse von Carolina Schutti und in englischer Sprache verfasste Zeilen von Jen Calleja miteinander verzahnt werden, soll es eine bilinguale Begegnung sein, die auch auf dem Papier erkennbar bleibt.
Wenn der fertige Text dann vorliegt, beginnt die Phase des Projekts, auf die Carolina Schutti sich besonders freut: die Vertonung, bei der die Gedichte mit Tönen und Geräuschen unterlegt werden, ähnlich einem experimentellen Hörspiel. Den Text zu produzieren sei, wie die Autorin uns erklärt, schön, aber auch fordernd und anstrengend. Hingegen: »Diese Spielereien mit Klang, das ist für mich wie eine Sandkiste für Erwachsene.«
Was das Projekt in dieser Form erst möglich mache, sei, dass beide Kooperationspartnerinnen ein Tonstudio zuhause haben, denn dadurch sei die bestmögliche Qualität des Einlesens und der Musik gegeben. Der Austausch während dieses Prozesses wird über Zoom stattfinden: Dies könne eine Challenge sein, aber auch zeigen, was über räumliche Grenzen hinweg möglich sei. Denn: Zwar habe sie, so Carolina Schutti, die Töne schon im Schreibprozess mitbedacht, indem sie »mit den Ohren, sehr musikalisch und rhythmisch“ geschrieben habe. Wie die unterschiedlichen Klangwelten, die unterschiedlichen Persönlichkeiten der beiden Autorinnen aber schlussendlich zusammengebracht werden können, werde erst die Arbeit im Tonstudio zeigen. Auch ästhetische Fragen hinsichtlich der Text- und Bildgestaltung des Videos sind – bedingt durch das lange Fehlen jeglichen inhaltlichen Austauschs – noch vollkommen offen und werden sich erst in der Endphase des Projekts entscheiden. Diese Vorgehensweise bringe mit sich, dass alle Arbeitsschritte streng hintereinander erfolgen müssen, nichts parallel laufen könne – was aber auch das Spannende an diesem Projekt sei:
»Ist eine Stufe erreicht, müssen wir relativ schnell reagieren – umso schneller, je näher die Deadline rückt. Das macht aber, denke ich, auch den Reiz aus, ein bisschen wie bei einem Ping-Pong-Spiel. Dabei haben wir die Zeit absichtlich so strukturiert, dass wir uns zum Schreiben die meiste Zeit gegeben haben – dies ist das Fundament des Projekts, dann wird immer noch schneller und enger getaktet.«
Schon fixiert ist neben der Veröffentlichung der Vertonung auf YouTube und weiteren gängigen Plattformen eine auszugsweise Publikation des Texts in der Zeitschrift Manuskripte, die am 16. Dezember erscheinen wird. Sollte es möglich sein, das Projekt in der Zukunft auch bei Präsenzveranstaltungen in Wien und London zu präsentieren, haben die beiden Autorinnen schon geeignete Musiker*innen im Kopf, mit denen sie auftreten möchten – Carolina Schutti zwei österreichische Ensembles, Jen Calleja eine britische Band.
DIMENSIONEN SPRENGEN
Noch wissen die beiden Dichterinnen nicht, wo die Grenzen eines Textes sind, wo sein Ende verortet werden kann. Dies auszuloten sei das Ziel des Projekts, denn: »Ich glaube, es ist jetzt gerade die richtige Zeit dafür, darüber nachzudenken, alle Dimensionen zu sprengen«, so Carolina Schutti. Aus diesem Grund sei sie, wie sie abschließend erzählt, sehr dankbar für die österreichische Literaturlandschaft, in welcher die Umsetzung solcher Projekte möglich sei:
»Ich bin wahnsinnig glücklich über die österreichische Literaturlandschaft, die nicht eindimensional ist und sich nicht (nur) dem Massengeschmack anbiedert. Ich habe das Gefühl, dass es ganz viele unterschiedliche Stimmen gibt, die Lust darauf haben, Dinge auszureizen, Texte auszureizen und auch, dem Publikum etwas zuzumuten. Da gibt es viel mehr als man glaubt, das finde ich wirklich schön. Etwa auch bei den unterschiedlichen ›Literaturdialoge‹-Projekten kommt ganz deutlich heraus, dass diese Landschaft sehr lebendig ist – und auch durch diese Ausschreibung eine schöne Bühne bekommt.«
Update Dezember 2021: Das manuskripte-Heft 234/2021, welches Texte von Carolina Schutti und Jen Calleja enthält, ist erschienen: https://andreasunterweger.wordpress.com/2021/12/16/manuskripte-234-marginalie/