
Ein Zufall war es, der Ursula Wiegele und ihren liechtensteinischen Projektpartner Ronnie R. Vogt zusammenführte, denn das Turmhaus in Balzers, wo die Schriftstellerin von April bis Juni 2022 im Zuge eines Stipendiums residierte, befand sich direkt neben dem Elternhaus des Literaten und Filmemachers. Sie habe, wie sie im Gespräch erzählt, sofort an ihn gedacht, als ihr die Ausschreibung untergekommen sei. Gemeinsam entwickelten sie dann das Projekt »Von Abfall bis Zukunftsvision. Ein Abecedarium zur Nachhaltigkeit«, indem sie Ronnie R. Vogts Vorschlag, das Thema der Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt zu stellen, mit Ursula Wiegeles Idee eines Abecedariums kombinierten, bei welchem unterschiedlichste Textsorten einbezogen werden sollen.
EINE DER ZENTRALSTEN FRAGEN DER GEGENWART
Für ihn sei, wie der liechtensteinische Schriftsteller erklärt, die Nachhaltigkeit ein besonders spannender Ausgangspunkt für den Literaturdialog gewesen. Einerseits handle es sich um einen unglaublich facettenreichen Begriff, der »von der Bedeutung her auf so vielen Ebenen verstanden werden [könne], dass wir es interessant fanden, mit diesem Begriff zu spielen«. Andererseits sei die Auseinandersetzung mit dieser Thematik – wenn man ‚Nachhaltigkeit‘ als Ressourcenschonung unseres Planeten versteht – eine der dringendsten Fragen, die uns Menschen momentan beschäftigen, und daher beiden Projektpartner*innen ein großes Anliegen. Während Ronnie R. Vogt etwa als Imker einen besonderen Bezug zur Symbiose zwischen Natur und Mensch habe, erzählt Ursula Wiegele, von klein auf in dem Geist nachhaltigen Handels erzogen worden zu sein; eine Auswirkung dessen sei zum Beispiel, dass sie nie den Führerschein gemacht habe und schon lange vegetarisch lebe. Zwar haben beide sich bis zu diesem Projekt künstlerisch noch nicht konkret mit dem Thema beschäftigt, allerdings schleiche sich die Nachhaltigkeit, so Ronnie R. Vogt, im übertragenen Sinne ohnehin in den Kontext vieler Geschichten ein – etwa in Dystopien, die häufig eine Folge dessen darstellen, »dass der Mensch nicht nachhaltig gedacht hat«.
Der Gedanke der Nachhaltigkeit ist bei dem gemeinsamen Projekt der österreichischen Autorin und des liechtensteinischen Filmemachers jedoch nicht nur thematisch vorhanden, er schlägt sich auch in Bezug auf die Möglichkeiten der weiteren Verwendung der entstehenden Texte nieder. Ursula Wiegele wünscht sich, dass Teile der Texte später Allgemeingut werden, damit sie auch außerhalb der literarischen Blase – etwa von Organisationen wie Global 2000 oder Greenpeace – genutzt werden können. Das ambitionierte Ziel sei es, die Menschen für das Thema zu sensibilisieren, denn, wie die Schriftstellerin anführt:
»Mein Problem ist häufig: Es gibt so viele tolle Romane und weiß Gott was alles im literarischen Bereich, wo ganz wichtige Sachen angesprochen werden. Aber wer liest das dann? Doch nur wieder die Leute, die eh so denken.«
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Ronnie R. Vogt © Ronnie R. Vogt -
Ursula Wiegele © Jesaja
BEDEUTUNG DES DIALOGISCHEN
Die beiden Projektpartner*innen haben sich die 26 Buchstaben des Alphabets aufgeteilt und jede/r überlegt sich 13 Begriffe aus dem Umfeld der Nachhaltigkeit, zum Beispiel A wie Abfall oder B wie Bio. Insgesamt verfassen beide je 26 Texte, entweder den Initialtext zu dem »eigenen« Buchstaben oder die Antwort darauf, wobei ausgemacht ist, dass es sich um eine Reaktion entweder auf das Stichwort oder auf den Text handeln könne. Wie dialogisch dieser Prozess angelegt ist, zeigt sich daran, dass außer der Tatsache, wem welcher Buchstabe »gehört«, nichts vorab festgelegt ist. Ursula Wiegele habe, wie sie in unserem Gespräch erzählte, zwar schon Ideen für »ihre« Buchstaben, möchte aber noch alles offen lassen, denn: »Es kann sein, dass aus einem Text von Ronnie ein neues Stichwort kommt.« Auch ihr Projektpartner berichtet, bis auf den Abfall, der sich schon im Titel des Projekts findet, keinen Begriff schon vorher überlegt zu haben. Für ihn liege der Mehrwert der Texte jedoch vor allem darin, dass sie aufeinander aufbauen. Er schätze an der gemeinsamen Arbeitsweise besonders den anderen Blickwinkel, den Ursula Wiegeles Antworttexte ihm eröffnen, indem sie Gedankenkonstruktionen finde, an die er nicht gedacht habe – und mithilfe derer sie dann auf interessante Weise wieder zu seiner Geschichte zurückkomme.
GATTUNGSVIELFALT
Damit Nachhaltigkeit von allen Seiten betrachtet werden könne, sei es wichtig, sowohl den Bezug als auch die Textgattung so offen wie möglich zu halten. Von Minidramen über konkrete Poesie und literarische Monologe bis hin zum philosophischen Essay darf alles, muss aber nichts vorkommen. Statt dem Zwang, akribisch eine »Checkliste« abzuarbeiten, gehe es um die Freude an der Arbeit mit unterschiedlichen Formen und die Freiheit, jene Gattung zu wählen, in der man am besten transportieren könne, was man ausdrücken wolle.
Doch wie finden Gattung und Begriff einander? Wie Ronnie R. Vogt in unserem Gespräch beschreibt, jongliere er vorab mit den Buchstaben und Begriffen. Er versuche, alle Gattungen gedanklich »auszuprobieren«, sobald jedoch eine Entscheidung für eine Gattung gefallen sei, ändere sie sich nicht mehr. Ganz anders ist das bei Ursula Wiegele, denn, wie die Schriftstellerin berichtet, entwickeln sich ihre Texte manchmal gegen den Plan in völlig andere Richtungen. So sei etwa plötzlich aus einem philosophischen Essay zum Defätismus doch ein satirischer Monolog geworden. Generell ziehe es sie immer mehr zur Satire, das habe sicherlich damit zu tun, »dass die Lage immer ernster wird. Es ist sehr bedrückend alles rundherum. Satire und Humor haben eine Entlastungsfunktion, das merke ich ganz stark bei mir, bei diesen ernsten Themen.«
EIN NEUER BLICKWINKEL
Die Gefahr, vor allem bei fachspezifischen Begriffen – wie zum Beispiel Fracking – Behauptungen aufzustellen, die sich als unwahr entpuppen, sei beiden Projektpartner*innen bewusst. Auch Wissenschaftler*innen haben, wie Ursula Wiegele in ihrer Recherche herausgefunden habe, unterschiedlichste Meinungen zu diesem Thema; auf zu Vieles gebe es keine Antworten. Das Projekt sei daher nicht so sehr der Versuch, Tatsachen widerzuspiegeln und Lösungsansätze zu bieten, sondern auf Probleme und Fragestellungen hinzuweisen. »Ein Thema, das per se relativ klar oder übersichtlich klingt, mittels einer Geschichte, einer Überlegung infrage« zu stellen, bezeichnet Ronnie R. Vogt in diesem Zusammenhang als eine der wichtigsten Aufgaben der Literat*innen. Das Projekt selbst sei ein bisschen vergleichbar mit einem Museumsbesuch, bei welchem die Betrachtenden das Objekt von allen Seiten begutachten und auch versuchen, hinter den Rahmen zu blicken. Das Ziel sei es, auch bei den Lesenden eine solche Bereitschaft des Hinterfragens zu erwecken. »Ich würde es«, so der liechtensteinische Autor, »am meisten schätzen, wenn jemand, der den Text gelesen hat, danach sagt, er habe dadurch eine neue Sicht auf den Begriff erhalten.«
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Ronnie R. Vogt © Ronnie R. Vogt -
Ursula Wiegele © Nicole Kiefer / ÖGfL