›Flechten‹ – wie sie aussehen, weiß vermutlich jede*r von uns. Wie sie riechen, wahrscheinlich auch. Wie kann man dies aber mit nur einem Wort ausdrücken? Über welche Wörter, die Gerüche nicht nur beschreiben, sondern sie präzise benennen, verfügt die deutsche Sprache überhaupt? Man sagt, etwas rieche nach einer Ziege, aber was heißt das eigentlich? Diese und weitere Fragen stellt Andrea Grill, eine weitere Gewinnerin des Wettbewerbs »Internationale Literaturdialoge«. Gemeinsam mit Anja Utler arbeitet sie an einem „ökologischen Schreibprojekt“, in dem ausgewählte Ökosysteme nicht nur inhaltliche Inspiration fürs literarische Schreiben sind, sondern auch die Form des Textes bestimmen. Was dies in der Praxis bedeutet, zeigt sehr gut die Abbildung eines Fisches, die Teil des Projektes ist und die wir hier vorab präsentieren dürfen.
Das Ziel des Projektes sei, für verschiedene Ökosysteme (vom Ameisenhaufen über Asphalt, Dachrinne und Fluss bis hin zum zentralen Müllplatz) eine sprachliche Begegnungszone zu erzeugen. Es gelte, in die eingeübten Sichtweisen und Begrifflichkeiten einzugreifen und eine sprachliche Veränderung zu beginnen, wie Andrea Grill in unserem Gespräch erwähnt.
»Die Dichtung kann ein zentraler Ort für diesen Beginn sein: Weil sie keine Information liefert, sondern spekulative Räume bietet, kann sie den Reiz erzeugen, sich mit sprachlichen Gewohnheiten und ihren Bruchflächen an der Welt frisch auseinander zu setzen. Dabei geht es nicht darum, ökologische Räume nur abzubilden. Poetische Texte sollen die Erfahrung nicht einholen, sondern sich ihr gegenüberstellen – als Gesprächspartner*innen. Wie auch wir Lyrikerinnen in diesem Projekt einander als Gesprächspartnerinnen gegenüberstehen.«
Andrea Grill
Die beiden Kooperationspartnerinnen kennen einander schon länger und hatten bereits die Möglichkeit, zusammenzuarbeiten, indem Anja Utler Texte und Übersetzungen von Andrea Grill lektorierte. Wir haben sie gefragt, worin sich das aktuelle Projekt von früheren Kooperationen unterscheidet, an denen beide Autorinnen teilnahmen. Stichwort: gemeinsames Schreiben, wovon Anja Utler länger erzählt:
»Als Dichterin werde ich immer wieder zu Kooperationen eingeladen. Aber meistens geht es dann um eine Zusammenarbeit mit Künstler*innen aus anderen Disziplinen. Neu ist für mich an der Kooperation mit Andrea Grill, dass wir die Texte tatsächlich gemeinsam schreiben. Wenn sie fertig sind, weiß ich nicht mehr, von wem was ist. Das gefällt mir gut. So entstehen Texte, die sonst nie entstehen würden, die ich alleine nie schreiben könnte. Das ist selbst bereits ein ökologischer Vorgang, wechselseitig, an die Akteurinnen und Bedingungen gebunden, unumkehrbar.«
Anja Utler
In der ersten Phase des Projektes sollen Textformen entstehen, die von den beiden Autorinnen geschrieben werden. In der zweiten sollen auch Leser*innen involviert werden, denn, wie Andrea Grill erwähnt, sei eine multimediale Internetseite geplant. Dabei gehe es darum, dass jede Person Texte verändern könne, indem sie etwas ergänze oder Buchstaben bzw. Wörter vertausche. So wie die Ökosysteme leben, sollen auch Texte leben. Man solle eine eigene Beziehung zu ihnen aufbauen. Mit dem Projekt wünsche man sich, den Impuls zu geben, über Sprache und Denken nicht nur zu reflektieren, sondern sie auch zu verändern, so Andrea Grill. Möglich sei dies auf jeden Fall, da, wie Anja Utler anmerkt,
»der ökologische Aspekt und der Wunsch, das Denken über das Sprechen herauszufordern und etwas umzuformen, sich nicht trennen lassen. Da gibt es nur Gleichzeitigkeit, kein Vorher und Nachher.«
Anja Utler
Das Wort ›umformen‹ ist hier von besonderer Bedeutung, denn es ist der Grund, warum Anja Utler zu schreiben begann und keine Biologin wurde – im Unterschied zu Andrea Grill, die in diesem Bereich ihre Habilitation verfasste.
»Als Biologiestudentin bin ich grandios gescheitert, nach wenigen Wochen musste ich es aufgeben. Ich musste mir eingestehen, dass ich viel lieber Texte zerschneiden wollte als Frösche. Was vielleicht damit zu tun hat, dass man zerschnittene Texte wieder neu zusammensetzen kann und dann leben sie anders weiter. Bei Tieren oder Pflanzen geht das nicht.«
Anja Utler
Jetzt können die beiden Autorinnen ihre eigenen beruflichen und privaten Interessen in den unterschiedlichen im Rahmen des Projektes entstehenden Texten ausdrücken. Die Texte sind sehr verschieden und lassen sich nicht vergleichen. Genauso wie die ausgewählten Ökosysteme – der Fisch und der Asphalt haben kaum Gemeinsamkeiten.
Neben der erwähnten Internetseite denken Andrea Grill und Anja Utler an hybride Auftritte, die ein internationales Publikum via Livestreams an reale Orte ihrer sprachlichen Ökosysteme führen werden. Geplant sind auch Videoarbeiten, die – ähnlich wie bei James Benning – minutenlange Einstellungen von ausgewählten Ökosystemen zeigen sollen und ohne Schnitt auskommen. Damit sie für ein internationales Publikum verständlich sind, werden sie anders als bei Benning untertitelt. Ein gemeinsames Buch soll das Projekt abschließen. Während Andrea Grill mit einer Schreibmaschine arbeitet oder alles handschriftlich notiert, verfasst Anja Utler ihre Texte auf dem Computer:
»Ich schreibe immer auf dem Computer. Im Ergebnis aber ist die Materialität für mich zentral, und etwas, das ich immer mitdenke. Text ist für mich etwas, das es immer geschrieben gibt, gesprochen und aufgeführt. Das sind unterschiedliche Materialzusammenhänge und in jedem Medium kann sich ein Text anders ausfalten, kann man ihm anders begegnen. Man denkt dann anders, erlebt etwas anderes. Auf einer Buchseite zum Beispiel muss ein Text nicht in durchgehenden Zeilen von links nach rechts laufen. Es kann kleinere Abschnitte geben, Sprünge, Einwürfe, Spalten an der Seite – es gibt viele unterschiedliche Arten, Text zu notieren und zu lesen. Das hatten wir fast vergessen, früher aber war das nichts Ungewöhnliches. Bei unserem gemeinsamen Projekt nun entdecken Andrea und ich, dass sich der Beweglichkeit eines Ökosystems – das keinen Moment kennt, in dem nichts vor sich geht, sich nichts bewegt und entwickelt – am besten digital antworten lässt. Hier basteln wir teils ganz konkret mit Stift und Papier und übersetzen das Resultat, um die Prozesshaftigkeit sichtbar zu halten, für die Veröffentlichung in ein digitales Format. Das ist eine völlig neue Erfahrung für mich.«
Anja Utler
Was aus dieser Arbeit, aus diesem Basteln mit einzelnen Elementen entstehen wird, wird nicht nur auf der eigens dafür eingerichteten Website www.stadtlandflussgetier.org, sondern auch auf jener von Andrea Grill www.andreagrill.org präsentiert. Wir sind schon sehr gespannt und freuen uns über das erste Teilergebnis, den Fisch.