Die Phrase, es handle sich um ein »Projekt, das ohne Corona gewiss nie realisiert worden wäre«, könnte bei kaum einer Zusammenarbeit zutreffender sein als bei der Reihe ›Rest in Poetry‹. Nicht nur, weil Michael Stavarič seine Kooperationspartnerin Tina Feyrer beim Dreh eines Videos für ›schreibART ONLINE‹ kennenlernte – eine im ersten Lockdown im Frühling 2020 entwickelte Programmschiene des BMEIA und der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, bei welcher Lesungen und Werkstattgespräche ohne Publikum gefilmt und auf YouTube gestellt wurden. Sondern auch, weil er, als es die Möglichkeit gab, Gelder für Projekte zu beantragen, den Wunsch verspürte, ein eigenes Konzept zu erarbeiten, in dessen Rahmen er Autor*innen während der Pandemie zu Auftritten und Honoraren verhelfen könne. Das Format – Film – war nach seiner Bekanntschaft mit der Regisseurin Tina Feyrer schnell geklärt und auch eine Örtlichkeit wurde rasch gefunden: der Friedhof, auf dem nun symbolisch nicht mehr für die Lebenden, sondern für die Toten gelesen wird.
LESEN FÜR DIE TOTEN
Das Besondere am Friedhof als Schauplatz für eine Lesung sieht Michael Stavarič darin, dass zwar kein lebendes Publikum vorhanden sei, aber »dennoch Leute da sind – viele Leute, die im übertragenen Sinne einer Lesung zuhören können.« Die Toten seien auf gewisse Weise präsent, was auch die besondere, auf jedem Friedhof andere Stimmung bedinge. Er selbst gehe gerne auf Friedhöfen spazieren, sowohl auf Reisen als auch auf dem Zentralfriedhof, wo er früher immer wieder gepicknickt habe und wo es ihn auch heute noch zumindest einmal im Monat hinziehe. Er staune darüber, so erzählt uns Michael Stavarič, dass die meisten Menschen Friedhöfe als Orte wahrnehmen, die man betrete, um jemanden zu begraben und manchmal an Allerseelen, die man aber ansonsten meide und tabuisiere. Denn:
»Meist sind es die Plätze, die am ruhigsten sind. Gerade im urbanen Raum ist der Friedhof gleichzeitig eine Parkanlage, und man hat viel zu besprechen, die Gräber, Inschriften, die Geschichten, die dahinter stecken. Man kann sie wie ein Buch, das man liest, ansehen und erfährt dann auch viel über die Gegend. Es sind Orte, wo Geschichte sehr nah wird und mit denen sich literarische Geschichten schnell verbinden lassen.«
Auch Tina Feyrer fühlt sich auf Friedhöfen wohl und besucht sie gerne, weil hier Platz sei für Natur und Architektur, Ruhe und Erinnerung. Sogar ihren Lieblingsfriedhof verrät sie uns: Tomba Brion in der Nähe von Triest. Für sie und Michael Stavarič eröffnet das Projekt ›Rest in Poetry‹ auch die Chance, dazu beizutragen, der Tabuisierung von Friedhöfen entgegenzuwirken. Die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Tod und dem Sterben sei »eine Form von Poetisierung des Ganzen, eine Form, sich dem nicht Greifbaren zu nähern, damit umzugehen. Und für mich eine sehr schöne Form, damit umzugehen«, so Tina Feyrer, in deren künstlerischer Arbeit der Tod grundsätzlich eine große Rolle spielt. Sie sei eine Anhängerin der Idee, dass Kunst einen Erkenntnisprozess bewirke, nicht auf begriffliche, sondern auf emotionale Weise. Diese besondere Art und Weise, Literatur zu präsentieren, könne bewirken, Friedhöfe mit anderen Augen zu sehen.
DAS ZUSAMMENSPIEL VON LITERATUR UND FILM
Das spezielle Format, das Michael Stavarič und Tina Feyrer gewählt haben, nennen sie »Lesedokumentarfilm«; es handelt sich weder um eine Verfilmung der Lesungen noch um einen Dokumentarfilm, sondern um eine Vereinigung von beidem – »eine filmische Auseinandersetzung mit Text, die etwas anderes will als das rein Dokumentarische oder das rein Filmische«, angelehnt an die sogenannten amerikanischen »film poems« der 60er Jahre. Dies ist, wie Tina Feyrer uns erzählt, der rote Faden, der die unterschiedlichen Folgen der Reihe verbindet. Ansonsten lassen die beiden sich auf die Location, auf die Autor*innen und auf deren mitgebrachte Texte ein, das Ergebnis ist jedes Mal aufs Neue offen. Das Ziel dabei ist, so Michael Stavarič, »die Texte anders zur Geltung kommen zu lassen als wenn sie bei einer normalen Lesung präsentiert werden würden. Ich glaube, dass sich der Text anders entfaltet, und vielleicht andere Möglichkeiten der Rezeption und des Nachdenkens über den Text möglich sind, indem man sich den Film ansieht.« Tina Feyrer ergänzt:
»Es ist mehr ein Einfangen und ein zusätzliches Deuten, denn die Texte selbst haben ja schon Bedeutung und Metatext. Durch das filmische Einfangen und Interpretieren kann man diese Metaebene verstärken, betonen, vielleicht auch ein bisschen umdeuten.«
Entstanden sind bisher zwei Folgen der Reihe. Gefördert vom Österreichischen Museumsbund, wurde ›Rest in Poetry I‹ letztes Jahr gedreht und führte Michael Stavarič, Tina Feyrer sowie die Lesenden Teresa Präauer, Katharina Ferner und Hanno Millesi auf den Zentralfriedhof, wo die Schriftsteller*innen den Toten Prosatexte vortrugen.
Bei der zweiten Episode, mit welcher sich Michael Stavarič und Tina Feyrer bei den ›Internationalen Literaturdialogen‹ bewarben, wurde das Konzept um internationale Partner*innen erweitert: Gewonnen werden konnten das ›Österreichische Kulturforum Berlin‹ sowie die ›Thüringer Literaturtage‹, das Literaturfestival auf der Burg Ranis, wo der Film nächstes Jahr präsentiert werden soll. Auch wurden dieses Mal drei deutsche Lyrikerinnen aus der Region eingeladen, auf dem Friedhof von Gotha zu lesen: Romina Nikolić – welche als Mitorganisatorin der ›Thüringer Literaturtage‹ zugleich koordinatorische Vorarbeiten vor Ort übernahm –, Nancy Hünger und Daniela Danz. Vom 20. bis zum 23. September 2021 fand der Dreh statt, von welchem Tina Feyrer schwärmt: »Die Texte der drei Autorinnen waren wundervoll, es war ein sehr passendes großes Ganzes.«
Schön wäre es, eine Finanzierung für weitere Folgen der Reihe zu erhalten. Michael Stavarič und Tina Feyrer könnten sich gut vorstellen, weitere Teile Österreichs, Deutschlands oder anderer Nachbarländer abzuklappern und auf unterschiedlichen Friedhöfen Lesungen für die Toten mit jeweils drei Autor*innen filmisch einzufangen, wobei ihnen wichtig ist, dass es sich um Schriftsteller*innen aus der Region handelt, da dadurch ein besonderer Bezug zu den lokalen Friedhöfen spürbar sei. Auch sei es möglich, das Konzept auf andere Kunstrichtungen auszuweiten und neben Literatur auch Bildende Kunst, Tanz und Musik einzubeziehen. Tina Feyrer hat es, so berichtet sie uns, »schon immer interessiert, mit verschiedenen Kunstrichtungen in Dialog zu kommen und etwas Neues daraus zu schaffen.«
ÄSTHETIK
»Es sollte auf keinen Fall etwas Morbides werden, weil das wahrscheinlich etwas wäre, das man sich ein bisschen erwartet. Es war sofort der Wunsch da, dem entgegenzuwirken und eine andere Art von Ästhetik zu bedienen, Klischees zu brechen«,
erklärt Michael Stavarič. Einerseits soll die Erwartungshaltung des Publikums grundsätzlich durch die Wahl der filmischen Mittel herausgefordert werden, andererseits gibt es den Anspruch, jede Folge mit einem anderen ästhetischen Konzept umzusetzen. So hat sich Tina Feyrer etwa dazu entschieden, bei den Aufnahmen in Gotha – im Gegensatz zu jenen am Zentralfriedhof – sehr viel mit Nahaufnahmen zu arbeiten, da sie Lyrik als besonders intime Gattung empfindet. Auch sei der Friedhof ganz anders angelegt, was einen anderen Stil in der Darstellung verlange: Während die vielen floralen Jugendstil-Elemente am Zentralfriedhof zu einer bewegten Kameraführung eingeladen haben, herrschen auf dem Friedhof Gotha klare Strukturen und Linien – viel Beton – vor, was Tina Feyrer filmisch durch statische, cleane Bilder in Schwarzweiß umgesetzt habe, die einen Kontrast zu den Close-Up Aufnahmen der Lesenden bilden sollen. Darüber hinaus ist es das erklärte Ziel der Regisseurin und des Schriftstellers, bei jeder Episode in der Art der Wiedergabe experimenteller zu werden, filmischer zu denken, erzählender zu gestalten. Man darf also gespannt sein – nicht nur auf ›Rest in Poetry II‹, sondern auch auf die zukünftigen gemeinsamen Lesedokumentarfilme von Michael Stavarič und Tina Feyrer.
Wir danken Michael Stavarič für einige Impressionen vom Dreh auf dem Friedhof von Gotha!