Lesen, Leben und Lachen in Tunis
Ein Erlebnisaufsatz
„Ermöglicht wurde das alles durch eine Flugplanänderung der Tunis Air“, werde ich in Interviews zu meinem Roman Der Vandale sagen. Das Buch wird ungeahnte Erfolge gefeiert haben, Preise bekommen und die literarischen Beziehungen zwischen Österreich und Tunesien für viele Jahrzehnte definieren, vergleichbar nur mit den Banden zwischen Frankreich und Tunesien, mit Flauberts Roman Salambo, der in Karthago spielt. „Hätte Tunis Air nämlich nicht ihre Direktflüge nach Wien reduziert“, werde ich sagen, „dann wäre ich statt einer Woche nur ein paar Tage in Tunesien geblieben.“ Und so wäre es tatsächlich gewesen, ich hätte einen Spaziergang durch die so bunte und chaotische Medina gemacht, mich gewundert wie verlassen und leer sie am Abend ist, hätte vielleicht Karthago besucht, meine Buchpräsentation absolviert und wäre auch schon wieder zurück nach Wien geflogen. So aber musste ich eine Woche lang auf den Retourflug warten, eine Woche in Tunis, von Dienstag bis Dienstag. Was für ein Geschenk der Literaturgötter! Am Mittwoch traf ich die österreichische Botschafterin Ulla Krauss-Nussbaumer, die Sachbearbeiterin für Kultur und Wirtschaft Marion Kasten und die Direktorin des Goethe Instituts Andrea Jacob zum feinen Abendessen am Strand von Gammarth, eine halbe Stunde vom Zentrum von Tunis entfernt. Gerade noch war ich im so grauen und kalten Wiener April gewesen und schon saß ich bei gegrilltem Fisch am südlichen Mittelmeer. Das erste Mal überhaupt in Afrika! Der Abend verging beschwingt in angeregter Unterhaltung, die drei Damen erzählten von ihrem Leben in Tunis und gaben mir touristische Tipps, aber ich meinte, ich wolle einfach nur spazieren gehen, nur zu Fuß könne man eine Stadt beginnen zu verstehen. Am nächsten Tag nahm ich dann dennoch den Vorortezug nach Karthago.
Karthago, die Phönizier, die Punischen Kriege, das alles habe ich in der Schule gelernt, viel mehr als diese exotisch klingenden Namen war allerdings nicht mehr übrig. Geschichte schafft es leider nie, in meinem Gedächtnis zu bleiben. Da hielt der Zug in der Station Salambo. Das war etwas anderes, das war Literatur! Salambo, der großartige zweite Roman von Gustave Flaubert, benannt nach der fiktiven Tochter von Hamilkar Barkas, eines karthagischen Staatsmannes und Feldherren. Dieser Stadtteil hier war also nach einer Romanfigur benannt! Wie immer erfasste mich ein Schauer, wenn Fiktion den Sprung in die Realität schafft. Der englische Romantiker Samuel Taylor Coleridge drückte das in einem Gedankenexperiment aus: „Was, wenn du im Traum zum Himmel stiegest und dort eine seltsame und wunderschöne Blume pflücktest? Und was, wenn du erwachtest und die Blume in deiner Hand hieltest? Was dann?“ Ja, was dann? Und was, wenn du eine Romanfigur Salambo nennst und fährst dann mit dem Zug und dieser hält in einer Station, die nach ebendieser benannt wurde? Was dann? Ist dann die Literatur stärker als die sogenannte Realität? Ich glaube schon, ich glaube, dass dem so ist, dass unsere Realität nur eine oberflächliche Version der Möglichkeiten der Literatur ist, der Literatur, an die ich glaube, wie andere an eine Religion. Und genau darüber sprach ich dann tags darauf im bis auf den letzten Platz gefüllten Festsaal des Goethe Instituts. Ich sprach über die Kraft der Literatur, den Unterschieden zwischen Realität und Fiktion, über meinen Roman Kilometer null, der in einem fiktiven Südamerika spielt und Krieg, Flucht und Leid zum Thema hat und trotzdem bei den Stellen, die ich auf Deutsch vortrug, die Leute zum Lachen bringen konnte, was mich freute, denn auch das Tragische darf lustig sein, muss es wahrscheinlich sogar. Haithem Haouel, ein Sachbearbeiter des Goethe Instituts, las Teile meines Romans auf Französisch vor und übersetzte auch die so freundliche Einführung und Vorstellung der Botschafterin und der Hausherrin. Weil aber alle Anwesenden wunderbar Deutsch konnten, verlief die angeregte Diskussion auf Deutsch und zog sich lange weiter, auch nachdem schon alle aufgestanden waren und Snacks und Getränke gereicht wurden. Da kam ein Mann auf mich zu, fixierte mich mit hypnotischem Blick und sagte: „Wenn Sie nun schon extra nach Tunesien gekommen sind, muss ihr nächster Roman in Tunesien spielen.“ Ich lachte und erwiderte, das könne man nicht befehlen, so funktioniere Literatur nicht, die Muse, oder wie immer man den so schwer fassbaren Funken der Inspiration heutzutage nennen wolle, küsse einen unvorbereitet, aber es könne durchaus sein, dass ich in vielen Jahren einmal an meine Woche in Tunesien zurückdenke und vielleicht die eine oder andere Szene in einem zukünftigen Roman mit meinem Aufenthalt hier zu tun habe. Der Mann schüttelte den Kopf. Nicht enttäuscht, dass ich seinem Vorschlag ausgewichen war, sondern als ob ich etwas objektiv Falsches gesagt hätte, die Hauptstadt Tunesiens Tripolis genannt oder so. Er schüttelte also den Kopf und sagte: „Nein. Sie werden einen Roman über Tunesien schreiben.“ Es war kein Befehl und auch kein Vorschlag, sondern wie eine Feststellung etwas bereits Geschehenen. Ich werde einen Roman über Tunesien geschrieben haben. Okay, sagte ich beschwichtigend, schüttelte ihm die Hand und wandte mich der Botschafterin zu, die mich informierte, dass jetzt noch ein Radiointerview auf mich wartete, dass in Le Temps ein Artikel von Hatem Bourial über die Veranstaltung erscheinen wird und dass ich unbedingt noch die unterirdischen Villen von Bulla Regia und die antike römische Stadt von Dougga sehen müsse. Wie schon beim Abendessen erwiderte ich, dass ich mir eigentlich nicht so viel aus alten Steinen mache, dass mir das Lebendige wichtiger erscheine, dass ich mich lieber einfach so durch die Stadt treiben lassen wolle. Doch genauso wie der Mann zuvor schüttelte sie den Kopf, so, als hätte ich eine Frage falsch beantwortet. „Fahren Sie dorthin, Sie werden beeindruckt sein, glauben Sie mir. Marion wird Ihnen die Nummer eines Chauffeurs schicken.“ Und als ich nach dem sehr lustigen Interview mit Ines Mohdhi Oueslati in Radio Tunis International mein Handy wieder einschaltete, fand ich dort bereits eine Nachricht von Marion Kasten, die, obwohl sie gerade ihre Master Prüfung mit Bravour bestanden hatte, statt zu feiern, tatsächlich daran gedacht hat, mir die Nummer des Chauffeurs zu schicken. Und zwei Tage später stand ich dann in einer dieser unterirdischen römischen Villen, beeindruckt vom wie neu wirkenden, wunderschönen Mosaik und hörte die Führerin, die ich mir geleistet hatte, von den Vandalen erzählen, die am Beginn des 6. Jahrhunderts hier geherrscht hätten. Auch damals waren die Mosaike schon 500 Jahre alt, und die Vandalen hätten, trotz ihres Namens, nichts zerstört, sondern die römische Kultur weitergeführt, angereichert durch die christliche Religion. Und da geschah es: ich sah einen jungen Vandalen vor mir, einen Ostgermanen, den die Völkerwanderung hierher verschlagen hatte, der aber bereits Latein sprach, und der wie ich in dieser Villa stand und auf das Mosaik mit dem Bild der hübschen Venus blickte. Über diesen Vandalen musste ich schreiben, das war klar, jetzt wusste auch ich es endlich, scheinbar als letzter, Tage nach der Botschafterin und dem Mann im Goethe Institut. „Es gab noch viel zu recherchieren“, werde ich im Interview nach der Verleihung des Buchpreises sagen, „aber eigentlich war der Roman in dem Moment fertig, als ich, wie der Vandale 1500 Jahre vor mir, auf die Venus am Boden blickte und spürte, dass das Leben, die Liebe, das Lachen, das Lesen und die Literatur unendlich sind“.