Lesereise Indien und Bangladesch
Dhaka / Delhi / Varanasi
19. September 2022 – 28. September 2022
Bereits die Fahrt vom Flughafen zum Hotel überwältigt, nicht wegen der Hitze und der am Ende der Monsun-Zeit hohen Luftfeuchtigkeit, nicht nur. Dhaka, eine der schnellstwachsenden Städte im asiatischen Raum, die sechstgrößte Metropolis der Welt, zeigt, was ein solches rasantes Wachstum im Alltag bedeutet: Die Staus und Baustellen, die Menschenmassen, die schiere Größe von allem und wie klein im Gegensatz jeder Einzelne wird, die Hochhäuser des Bankendistrikts, die Bettler mit oftmals erschreckenden Verstümmelungen, die Betonröhren, die über den Köpfen langsam von Pfeiler zu Pfeiler weiterwachsen, zukünftiges oberirdisches Schienennetz einer Schnellbahn, die, so hofft man, das Verkehrschaos beruhigen wird. Mittags treffe ich aus Wien kommend ein, schon am frühen Nachmittag werde ich vom Hotel abgeholt, sicherheitshalber, damit Vorbesprechung und die abendliche Veranstaltung auch tatsächlich stattfinden können. Man rät mir davon ab, zu Fuß zu gehen, es sei kaum möglich, die Straßen zu queren, und selbst im Auto müsse man aufgrund der Staus zwei Stunden einrechnen, mindestens.
Das Goethe-Institut gleicht einer entspannten, ruhigen, vor allem gekühlten Insel. Laut der Leiterin bin ich der erste österreichische Schreibende, der in dieser Stadt, diesem Land auftritt, aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der diplomatischen Beziehungen zwischen Österreich und Bangladesh. Ich rezitiere aus Phantome, die nachfolgende Diskussion ist ausgesprochen lebhaft. Die historischen Gegebenheiten des Romans, der vor allem in den 1990ern in Bosnien spielt, während des Krieges, findet einen für mich überraschenden Widerhall: Die Geschichten von Flucht, Über- und Weiterleben weckt die Erinnerung an den Unabhängigkeitskrieg 1972, als sich Bangladesch aus dem damaligen Ost-Pakistan löste – We are the only people who shed blood for their language, höre ich, we and the basks.
Nach zwei Tagen und zwei Nächten in Bangladesch führt die Reise weiter nach Indien. Insgesamt neun Autor*innen aus Europa finden sich zusammen, für ein Podiumsgespräch an der Delhi University und Impulsreferaten für Student*innen, vor allem aber für die Long Night of LiteratureS. Am 23. September werden wir im Instituto Cervantes jeweils einem Klassenzimmer zugewiesen. Das Publikum teilt sich in Gruppen und spaziert durch das Gebäude, von Raum zu Raum, Lesung zu Lesung. Achtmal trete ich zu je zwanzig Minuten auf, mit Rezitationen aus Gemma Habibi und Phantome, die Übersetzung ins Englische wird per Beamer projiziert – und mit jedem Mal ist es eine andere, geschärftere Erfahrung, man selbst gerät in eine Art von Rausch und das Publikum wird gelöster, in Verbindung mit den zeitgleich stattfindenden acht anderen Lesungen erwächst eine eigene Energie, die dieses ungewöhnliche Format zu einer besonderen Erfahrung macht.
Zwei Tage später brechen wir nach Varanasi auf. Sechzehn Jahre früher war ich erstmals in der heiligen Stadt, Geburtsstätte des Sanskrit; während des neuerlichen Aufenthalts versuche ich, mich in meine damalige Gedanken- und Gefühlswelt zurückzuversetzen. Was verbindet mich noch mit einem zweiundzwanzigjährigen Backpacker, der aus der heißen Gangesebene fort wollte in den Himalaya, nach Sikkim bestenfalls, einer vagen Vorstellung von Freiheit und Abenteuer hinterher? Ähnlich dem Goethe Institut in Dhaka ist das Alice Boner Instituts eine Art Ruhepol. Am Fluss gelegen, finden sich in diesem Haus über mehrere liebevoll eingerichtete Stockwerke verteilt Erinnerungsstücke der namensgebenden Schweizer Bildhauerin (oder besser: universal interessierten Gelehrten). Die Veranstaltung dauert bis nach Mitternacht, dank der fundierten Moderationen, der anregenden Publikumsgespräche vergeht die Zeit in einem Fingerschnippen. Seit meiner Ankunft begleitet mich das Gefühl, wertgeschätzt zu werden – sowohl ich als Autor, als auch die Texte; eine Beobachtung, die mir erst während dieses Abends gänzlich bewusst wird.
Erwähne ich meine Herkunft, weisen mich sowohl der Hotelrezeptionist als auch der Institutsleiter auf einen Autor hin, ebenfalls Österreicher, der lange Zeit in der Stadt gewesen sei, legendär aufgrund seines obsessiven Interesses an den Verbrennungsstätten. Varanasi, das wird schnell deutlich, hat Josef Winkler nicht vergessen. Die Stadt strahlt eine unleugbare Faszination aus. Die Yoga-Rituale und die Hindu-Zeremonien frühmorgens oder abends am Fluss; die Holzstapel an den Feuerstellen; die Geschichten, die um das Feuer kreisen, etwa dass fünf Gruppen nicht verbrannt werden, sondern man ihre toten Körper dem Fluss überantworte, nämlich Mönche, Schwangere, Lepra-Kranke, Kinder, und jene, die am dem Biss einer Schlange gestorben sind – das Ganges-Wasser wecke diese wieder auf, sagt man mir, but it never happens, merkt mein Gegenüber mit einer gewissen Traurigkeit an -; die Trommelrhythmen, ehe die Scheiterhaufen entzündet werden; der dichte Rauch, der schließlich vom Ufer fort durch die engen Gassen zieht. Es sind dies einige der Notizen, die ich während der zwei Wochen niedergeschrieben habe, eine Fülle an Eindrücken, die, fällt mir nach meiner Rückkehr auf, nicht unähnlich jenen Beobachtungen sind, die ich sechzehn Jahre zuvor in ein anderes Notizbuch gekritzelt habe; dass ich Indien mit anhaltendem Staunen begegne, und mir die Orte und Menschen eine Überforderung bescheren, der auch durch das Schreiben nicht beizukommen ist, das immerhin scheint eine Konstante zu sein.