Versuch etwas über New York zu sagen,
mittels der Unmöglichkeit überhaupt etwas über New York sagen zu können
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Hier ist ein Problem: Überhaupt etwas über eine Stadt sagen zu können, macht einen Blick von außen notwendig. Es verlangt sozusagen, dass der eigene Wahrnehmungsapparat nicht vollkommen heimisch und also voreingenommen ist. Überhaupt etwas über eine Stadt sagen zu können, muss auf der anderen Seite aber auch von einer gewissen Substanz getragen werden, die erst durch Erfahrung erworben wird. Nicht wirklich ein Paradox also – aber eine Gratwanderung zwischen Vertrautheit und vermeintlicher Neutralität, zwischen Klischierungen und sogenanntem echten Leben. Verschärfung der Versuchsanordnung: Nur zwei Wochen an einem Ort zu sein, und dass dieser Ort New York ist – die Stadt, die den gerade geschilderten Drahtseilakt gefährlicher macht als jede andere – was aufzuweisen die Absicht dieses Essays ist.
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Als der französiche Universalpoet Jean Cocteau 1949 nach nur 20 Tagen in New York auf dem Rückflug nach Paris seinen Essay Lettre aux Américains niederschrieb, schien er die Falltüren eines allzu eiligen Urteils anders zu bewerten. Keine drei Wochen nachdem er zum ersten Mal amerikanischen Boden betreten hatte, sah er sich in der Lage, einem Volk von 148 Millionen Menschen Ratschläge über die Gestaltung ihrer Zukunft zu erteilen. Geradezu paradigmatisch stellt er in seinem Text die sogenannte alte der sogenannten neuen Welt gegenüber, inspiriert von einer handvoll an Erlebnissen, die sich – auch durch Cocteaus poetische Sprache – schnell zu Aphorismen entwickeln. New York als Versprechen an die Zukunft etwa, New York als weite Offenheit, die alles aufnimmt, was ihr begegnet. Man müsste, so meine Empfindung, als Einheimischer unrund werden, wenn wie so oft das Phrasenhafte, das Aphoristische dem eigentlichen Erlebnis von New York vorauseilt.
Aber es ist überraschenderweise keine Seltenheit, dass externe Stimmen von den New Yorkern selbst als die treffendste Beschreibung ihrer Lebenart beurteilt werden. Wenige Essays über den Big Apple haben mehr Berühmtheit erlangt, als Here is New York von E.B. White aus dem Jahr 1948.
Niedergeschrieben an ein paar heißen Sommertagen, und gleichfalls bloß von einem Besucher der Stadt, gilt der Text als Kult, nicht zuletzt aufgrund seiner hymnischen Gesänge auf die schwungvolle Schnelle, die kulturelle Dichte der Stadt. Das oben angerissene Problem zeigt sich jedoch auch hier schon. Beurteilen zu wollen, ob der Tourist White die hyperbolische Beschreibung New Yorks als „Hauptstadt der Welt“, als „einzigartig, kosmopolitisch, mächtig und unvergleichlich“ übernommen, projiziert, erlebt oder gar selbst geprägt hat, scheint schon damals schwer gewesen zu sein. Auch Whites Text durchzieht jenes fast magisch-kindliche Denken, das für Beschreibungen New Yorks immer schon charakteristisch schien: dass fünf auf der Straße gefundene Dollar hier und nur hier ein Schicksal ändern können etwa – oder dass Millionär und Tellerwäscher sich quasi Tür an Tür befinden. Ideen die auf vielerlei, sicher aber nicht auf Evidenz basieren können.
Bemerkenswert ist auch, dass schon damals – in der Zeit, die heute von Nostalgikern als die Hochzeit der Stadt empfunden wird –Wehmut nach dem vergangenen der entscheidende Modus war, New York zu beschreiben. In der Einführung in den Text schildert E.B. White das aufgelassene Lafayette Hotel und beklagt, dass die Stadt heutzutage nicht mehr so „fiebrig“ sei, wie damals.
Anders ausgedrückt: Nicht nur das Erlebte war für ihn das, was Manhattan ausmachte, sondern die Vorstellung des Vergangenen. Nicht das was man vor sich sieht, sondern die Bilder, die man gesehen hat, oder die vermeintliche Erinnerung an etwas – quasi stete Erwartung.
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Wenn es schon in den 1940ern Hürden gab, als Zugereister unvoreingenommen an New York heranzutreten, so sind sie in unserer eigenen Zeit unüberwindlich geworden. Man sieht vor sich: Spiderman, wie er durch die Häuserfluchten in Central Manhattan turnt – oder Michael Douglas, der Charly Sheen in Wall Street durch sein Penthouse führt. Man hat eine halbes Dutzend Disneycharaktere die Streben der Brooklyn Bridge herabrutschen sehen, und war entsetzt, als sie in I am Legend niedergerissen der Zombieapokalyspse zum Opfer fiel. Man erinnert Carry Bradshaw, die Mister Big im Boathouse Restaurant trifft – genau dort, wo aucha Harry und Sally gemeinsam im Central Park aßen. Die Referenz dieses Sekundärgedächtnisses, oder das worauf einen die Filme verweisen, sind bald andere Filme, ist wiederum eine andere Serie – ist eine endlose Referenz vom Vertrauten in dem, was man in Wirklichkeit noch nie gesehen hat.
New York ist so eine der wenigen Städte, an die man sich schon erinnert, ehe man sie besucht hat.
Ich habe ein unheimliches Gefühl der Bekanntheit mit der Grand-Central Station, ohne genau sagen zu können, woher. Reminiszenzen an den Times-Square, mit denen etwas nicht zu stimmen scheint – und dann die verblüffende Feststellung, dass mir erscheint, etwas mit dem echten Times-Square würde nicht stimmen, weil er mit dem auf Fotos gesehenen nicht übereinzustimmen scheint. Unablässige Deja-vus verfolgen mich zwar, während ich den Broadway heruntergehe. Ich bin gleich verwundert darüber, wie klein eigentlich Manhattan ist, ehe ich begreife, dass die cinematischen Drohnenflüge, die meine Augen schon so oft durch die Häuserschluchten geschoben haben, mehrfach aneinandergeschnitten sind.
Immer hinkt die Wirklichkeit hinter der Antizipation hinterher. Ein dringendes Bedürfnis, New-York-Times lesend in einem Café zu sitzen treibt uns an; aber es wird letztendlich über eine Woche brauchen, ehe wir sie auftreiben können. Er wisse nicht einmal, wo man heutzutage noch Zeitungen kaufen könne, sagt der Doorman unseres Gebäudes. Das Vorgestellte läuft ins Leere und bleibt dennoch hyperreal. Ich freue mich unbändig auf das Empire State Building, das ich schon von Queens aus sehe – nur um am selben Tag festzustellen, dass ich jahrelang fälschlicherweise das Chrysler-Building vor Augen hatte. Wie nennt man eigentlich Erinnerung, wie Vorfreude, die keine Referenz besitzt?
Das Hinterhältige an einer Überlagerung von medial vererbten Eindrücken über eine Stadt ist nicht allein, dass sie nicht die eigenen sind, sondern dass sie schon vorweg das in Zweifel ziehen, was man selbst erleben könnte. Das, was ich ersehne, während ich durch Manhatten gehe, ist immer das andere, das was gerade nicht da ist: Clubs, die ich auf den Fotos aus den 70ern gesehen habe, und die sich, denke ich intuitiv, in versteckte Hinterhöfe ducken müssen. Ich sinniere, wie in irgendwelchen mahagoniverkleideten Hinterzimmern die Intellektuellen die Fäden des Kulturlebens ziehen, wie man es aus Truman Capotes Tagebüchern kennt. Und dann die vielen Chancen, die opportunities, die allesamt da sein müssen, ohne dass ich überhaupt wüsste wozu; und dann wird mir wieder klar, wie lächerlich das alles ist.
Nur Gefühle für das, was da sein müsste, und eine merkwürdige Stumpfheit gegenüber dem, was da ist. Unablässig fühle ich, dass sich mir etwas entzieht – dass vor meinen Augen ein Art ontologischer Irrtum geschieht.
Bin ich denn nicht in der großartigsten Stadt der Welt? Müsste mit dem Hiersein dann nicht auch ein gewisses Gefühl einhergehen? Was man über New York sagt verstellt dabei das, was New York eigentlich ist. Im Grunde fahre ich nach Hause, ohne der Frage einen Schritt näher gekommen zu sein, denn alles, was mir widerfahren ist, ist entwertet gegenüber dem, was ich erwartet habe. Das Memorial des World-Trade-Centers ist der einzige Eindruck, der eindeutig meiner ist – vielleicht weil die tiefen Abgründe nicht verhehlen, dass sie ganz und gar Absenz sind.
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„Pseudoerinnerung [engl. pseudomemories], Pseudoerinnerungen sind vermeintliche Erinnerungen an Ereignisse, die objektiv nicht stattgefunden haben, subjektiv aber als tatsächliche Erinnerungen betrachtet werden“, sagt Dorschs Lexikon der Psychologie. „Erstmals wurde in einer Studie von Ceci et al. gezeigt, dass es möglich ist, nicht nur einzelne Details einer Erinnerung zu beeinflussen wie beim Falschinformationseffekt, sondern auch Erinnerungen an autobiografisch bedeutsame Ereignisse zu induzieren, die gar nicht stattgefunden haben.“
Man nennt diesen Effekt auch: Quellenverwechslungsfehler. Natürlich wissen wir, dass die Authentizität von Erinnerung und Erwartung fragwürdig sind, zumal wenn es sich um einen kollektiv geprägten Begriff wie New York handelt. Aber es ist doch eine andere Angelegenheit, davon in einem Sammelband über postmoderne Philosophie zu lesen, als es am eigenen Leib zu erfahren.
Der französische Medienwissenschaftler Paul Virilio beschrieb in seinem 1980 erschienenen Buch Ästhetik des Verschwindens, wie die individuelle Erfahrungswelt in unserem Zeitalter durch einen kollektiven Strom überpersoneller Bilder ersetzt wurde. Wie im Traum befinde man sich durch das Fernsehen (und sicherlich, würde mir Virilio zustimmen, noch viel stärker durch das Internet) zwar an weit entfernten Orten, sei dabei aber in einem „künstlichen Zustand paradoxer Wachheit“ – einem Zustand, der sich bald so nahtlos in das Alltagsbewusstsein integriert, dass bald nicht mehr unterschieden werden kann, woher einem die Dinge bekannt sind.
Die Frage, die ich mir stelle, ist, ob reisen, vor allem aber das Schreiben über das Reisen, in einer globalisierten Welt überhaupt noch möglich sind, und zwar insofern als dass ich unter reisen das Erwerben wenn nicht unbedingt neuer, so doch eigener Eindrücke verstehe. Oder aber wird die Absicht zu erleben – das heißt auch, authentische Informationen zu sammeln – immer schon vom Quellenverwechslungsfehler überholt, wenigstens an Orten wie New York?
Information heißt dabei keinesfalls nur Text, Bild und Ton. Bei meiner ersten Reise in den USA 2005 war es für mich noch leichter möglich, neue Erfahrungen zu sammeln. Ich erinnere mich zum Beispiel an Big Red – den Kaugummi, der nach Zimt schmeckt, oder meinen ersten Besuch bei Kentucky Fried Chicken. Halloween feiern in Kalifornien war eindrücklichst, ebenso wie das Wundern über die Bauweise von Amerikanischen Toiletten. Jetzt, im Tempo der Globalisierung der letzten 20 Jahre, liegt Big Red in jeder Tankstelle Wiens und selbst diese kleinen Erfahrungen können nicht mehr gemacht werden, ohne sie – quasi symbolisch – schon hundertfach durch Instagram vorweggenommen zu sehen. Eine globales Dorf der Quellenverwechslungen.
Bei keinem Ort erscheint mir diese Problematik so akut wie in New York, denn an der Mystifizierung der Stadt beteiligen sich nicht nur die Medien, sondern auch die eigenen Nachbarn, Freunde, Bekannten . If you can make it there, you’ll make it everywhere. The city that never sleeps. Concrete jungle where dreams are made of. Dass diese Stadt mehr noch als aus Beton aus Phrasen besteht, macht es unmöglich, noch etwas Tiefsinniges über sie zu sagen. Wenn man an New York etwas beklagen will, dann sollte es das sein.
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Susan Sontag schreibt in ihrem Essay Notes on Travel: „In almost all accounts of modern reflective travel, the master subject is alienation itself. The trip may support a skeptical, acutely sensuous, or speculative view of the world.“ Dass dieses Zitat 1984 verfasst wurde, unterstreicht, meiner Ansicht nach, wie rapide die Verunmöglichung eines selbst herbeigeführten otherings durch Reisen, wenigstens des westlich-weißen Menschen, vorangeschritten ist. Natürlich gibt es sie noch im Extremen, diese Erfahrungen des Spekulativen, und der Mount Everest wird letztlich immer ein Novum bleiben, aus so vielen Quellen man ihn schon vorher erschlossen hat. Mir geht es keinesfalls darum, die Authentizität fremder Erfahrungen in Zweifel zu ziehen, sondern um einen Hinweis darauf, dass es – allein aufgrund der Organisation unserer Psyche und der modernen Gesellschaft – quasi unmöglich wäre, diese Authentizität zweifelsfrei zu belegen.
Um in aller Bescheidenheit wieder auf meinen ursprünglichen Punkt zurückzukommen: Einen Reisebericht über New York zu schreiben, ist daher eine Unmöglichkeit, weil man dafür so lange in der Stadt bleiben müsste, dass es dann kein Reisebericht mehr sein könnte, und weil das Gesagte für Leute, die sich den sogenannten Blick von außen wünschen, vollkommen belanglos wäre. Nach New York zu fahren ist so quasi, wie einem Prominenten zu begegnen, über dessen Beziehungsgeflechte und Präferenzen beim Hosenkauf man schon seit Jahren in von der Bunten unterrichtet wurde. Was kann Kennenlernen im üblichen Verständnis hier noch bedeuten?
Manchmal enden Texte eben auch im Nichts.