Blue Room
Obwohl erst Vormittag, ist es schon heißer als gestern. Ich bin unschlüssig, wie alles abgelaufen ist. Es war einer dieser Tage, an denen man beim Verlassen des Hauses einen kleinen Stein im Schuh spürt, und spät am Abend, in einem Hotel in einer anderen europäischen Stadt, das erste Mal Zeit findet, ihn loszuwerden. Nur mit Mühe und Ärger erreiche ich meinen reservierten Sitzplatz, erst da fällt mir auf, dass es derselbe wie bei der Herfahrt gestern ist. Seltsamer Zufall. Ich zwänge den Rucksack in die Gepäckablage, öffne das Hemd und wische mir mit dem Sakkoärmel über das Gesicht. Wenn das so weitergeht, wird dieser Sommer wirklich unerträglich.
Der Mann, der mich mit einer Bitte um Unterstützung nach Budapest gerufen hatte, ließ mich vor dem Haus in der Stràhly utca warten, wahrscheinlich um mich vorher zu beobachten, aber das stellte ich mir nur vor, als ich neben dem Tätowierladen stand, die dort ausgestellten Fotos betrachtet hatte und die hinter den Dächern untergehende Sonne sich noch einmal in die Gasse herunter stahl. Ich folgte dem blendenden, weißen Fleck auf die Mitte der sauber gepflasterten Kreuzung. Das Letzte, was ich sah, war ein weißes Licht, das ein kreisrundes Stück aus der Dachtraufe herausschnitt.
In Wien hätte ich gewusst, wie ich in das kühle Haus hineingekommen wäre, aber hier sprachen die Häuser eine andere Sprache. Ich stellte mir vor, dass die historistische Fassade mich nur nach forschem Auftreten ins Haus hineinlassen würde, ich mich zum Beispiel als Paketbote ausgeben müsste. Alle öffnen sie das Haustor für ein Paket. Oft kommt es mir vor, dass die Seele der Häuser auf ihre Bewohner abfärbt. Ich sah auf das Telefon. Es war zu heiß für einen Apriltag. Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter. Im Umdrehen setzte ich ein freundliches Gesicht auf, sah die Leihscooter, die an den Metallzaun des kleinen Parks angelehnt waren. Beides, die Batteriegefährte und die hohen Bäume, hatte ich vorher gar nicht so wirklich wahrgenommen. Blätter fielen viel zu früh für die Jahreszeit von den Bäumen, ohne dass ein Wind sie davongetragen hätte.
*
In einem der anderen Räume spielte ein CD-Player sehr leise einen langen Chat Baker Song. Er hatte mir auf einem großen Bildschirm auf dem Küchentisch ein Analemma des Mondes vorgelegt, eine digitale Komposition aus sechsundzwanzig einzelnen Fotos des Mondes, verteilt über einen schwarzen und blauen Nachthimmel, das mich sehr berührte, obwohl ich nichts davon verstand.
Für die Aufnahmen hatte er eine Canon 200D mit einer 18 Millimeter Linse benützt. Die Fotos für ein solches Analemma zu schießen war eine Herausforderung gewesen, erzählte er mir so nebenbei, während ich die Meilensteine des Mondes über der Zitadelle auf dem grünen Gellértberg am rechten Donauufer nachzählte. Erst da erkannte ich, dass die anmutig geschwungene und in sich zusammenfallende Figur, die an einen bewegten Achter, in den Himmel hinauf und wieder herab, erinnerte, eine Reise durch seine vielen verschiedenen Stadien war, von voll zu abnehmend und wieder zurück. Es war eine Anfangslosigkeit zu spüren, die unaufhaltbar schien, die natürlich schon immer da gewesen war, die aber ihre Schönheit auch erst durch unser Staunen erlangte. Ich wusste nicht, in welche Richtung diese Reise ging. Ich hätte ihn da schon fragen sollen, warum er mich zur Hilfe gerufen hatte.
Ich musste dementsprechend dreingesehen haben, denn lachend sagte er, dass meine Gefühle uninteressant wären. In Wirklichkeit sagte er, dass sie Dreck wären, aber wir sprachen Englisch miteinander, so wie er mich seit seinem ersten Schreiben angesprochen hatte, und deshalb wusste ich, später dann zumindest, dass er es nicht so hart gemeint hatte. Außerdem hatte er nicht ganz unrecht. Gefühle schön und gut, aber wenn wir die Phänomene aus meinem Zuständigkeitsbereich erklären wollten, konnten sie uns nur behindern. Ich lachte also nicht, sondern sagte, dass eine grundsätzliche, neutrale Analyse immer nur unter völliger Hintanhaltung unser aller Meinungen – ich sagte views on things – klappen konnte. Das Zeitalter der Gefühle war zu einem Ende gekommen, so oder so ähnlich sagte ich mir das. Was ich mir dabei dachte, war, dass der Versuch, Allgemeingültigkeit definieren, ausformulieren zu wollen, immer mit einem schmerzhaften Prozess der Selbstverleugnung verbunden schien. Konkret dachte ich, dass das Nichteinschwenken auf die Kriegsbegeisterung ein hehres Ziel sein mochte, mir selbst aber nur gelingen konnte, wenn ich mein Entsetzen über die einzelnen Gräuel und Gemetzel aus der Analyse heraushalten konnte. Erst die Verdrängung des Schauderns ermöglicht das Verstehen des wirklichen Grauens. So eine Sichtweise ließ sich auch auf viele andere Bereiche anwenden.
Du musst verstehen, erklärte er, der Mond kehrt in jeder aufeinanderfolgenden Nacht mit einer Verspätung von fünfzig Minuten und neunundzwanzig Sekunden auf den gleichen Platz zurück. Um die Wanderung des Mondes über den Nachthimmel zu dokumentieren, musst du also, ich sah ihn interessiert an, jeden Abend um punktgenau diese Zeitspanne später deine Kamera auf dieselbe Stelle richten. Und dann einen Mondmonat lang jeden Tag ein Foto machen. Dass du dann in ein Gesamtbild zusammenfügst, ergänzte ich. Er nickte.
Aber diese scheinbare Möglichkeit, die Dinge, nein, die erfahrene Welt, dachte ich, umzudrehen, von hinten zu lesen und zu verstehen, beschränkte sich nicht auf die Fahrt des Mondes alleine. Das, was normalerweise über der Stadt lag, die Zitadelle auf dem Gellértberg, die mit den Augen der Freiheitsstatue die Stadt weit nach Osten überblickte, schien nun zu Füßen des manchmal satten, gelben und dann wieder zart verblassenden seltsamen Wanderers zu liegen. Dieser Ort, halb Erinnerung an Altes, längst Verschwundenes, und halb in Stein geschlagenes Ausflugsziel auf dem höchsten Punkt der Hauptstadt, war wie umgekehrt zu einem unwichtigen Detail im Angesicht anderer Beschreibungsmöglichkeiten unseres Zustandes geworden.
Er tat das, was er bis dahin erklärt hatte, beinahe bescheiden ab. Auch wenn es nicht viele dieser Analemmata des Erdmondes gab, und im Übrigen auch nicht von der Sonne. Wie viele? Dreißig, vielleicht vierzig Fotos insgesamt. Von der Sonne, denn vom Mond wusste er keine Zahl zu nennen. Ich fragte mich, ob seines das erste überhaupt war. Ebenso erstaunte mich die Antwort auf meine Frage, warum er dann den Mond gewählt hatte. Weil es schneller ging. Und ob man das nicht auch auf einer klassischen Filmrolle hätte machen können. Ein Foto immer wieder aufs Neue zu belichten? Er nickte, in seinen Augen sah ich eine weitere interessante Antwort sich ankündigen, als er sagte, ja, das wäre beim Mond sogar viel eher durchführbar als bei der Sonne, aber dann wäre ihm auch nicht untergekommen, weswegen er mich gerufen hatte. Da wusste ich natürlich, dass das Phänomen, von dem er geschrieben hatte, ganz einfach meinte, dass auf einem der Fotos etwas fehlte, es musste so sein. Verwundert fragte ich mich, was man mir im Begriff wegzunehmen war, denn interessanterweise fühlte sich meine Lage in diesem Moment so an.
Er redete weiter, aber ich kehrte zu meinen Überlegungen von vorher zurück. Dass die Idee des Motivs immer auch einen speziellen Ort wünschte, war mir klar, er hatte die Pyramiden von Gizeh erwähnt, einen griechischen Tempel auf Kreta und andere, die ich vergessen habe, die alle zur erhebenden Erfahrung des Analemmas beitrugen. Da sagte er plötzlich, dass ich der Richtige sei für das Problem, das sich im Laufe dieser Arbeit ergeben hatte.
Dass ich dem Wunsch nach einer sofortigen Analyse immer nachgeben würde, sagte ich so neutral wie möglich, und er nickte. Und das ist es auch, was meine Arbeit ausmacht, nämlich sofort einer Art europäischem Impuls zu folgen, vor einer Erscheinung nicht ausschließlich voll Ehrfurcht zu stehen, sondern in allem auch eine Erklärung finden, oder zumindest eine Analyse bestreiten zu wollen.
Er schloss das Bild, der Schirm zog es in die rechte untere Ecke, wo es wie eine Bösartigkeit, die nichts erläutert wissen wollte, lauerte, und öffnete einen Ordner mit weiteren Fotos. Die Einzelfotos, murmelte er, markierte diese und öffnete sie mit einem schwungvollen Tastendruck.
An den Küchenwänden waren mattweiße Tapeten mit einem wiederkehrenden technoiden Pflanzenornament, das, spärlich gesetzt zwischen bräunlichen Linien, den Endpunkt einer Entwicklung abbildete, von einem ornamentalen Jugendstil über strenge Art Deco Reduktionen einer damals noch freundlichen Flora hin zu einer seltsamen Ostblocknostalgie, die sich fast identisch auf einem Kaffeegeschirr meiner Großmutter wiedergefunden hätte. Ich fragte mich, woher sie das gehabt hatte, und wohin es nach ihrem Tod verschwunden war. Als sie noch gelebt hatte, war die Umwelt uns noch freundlich gesonnen gewesen, kam mir da seltsam allgemeingültig vor. Das machte mich traurig, weil ich sie jetzt gerne gesehen hätte. Aber die Menschen, ebenso wie die Dinge, verschwinden aus unseren Leben. Es gibt keine Erklärung dafür. Vielleicht dachte ich das auch nur, weil ich bereits wusste, dass sich alles hier um Verlust und Verschwinden drehte.
Er ordnete die Fotos auf dem Bildschirm zu einer Übersicht an und bat mich, sie mit wachem Blick zu untersuchen. Ein paar Klicks und eine Diashow aus sechsundzwanzig Fotos startete. Wir haben Zeit, sagte er, schau es dir in Ruhe an, so oft du willst, und sag nur, ob dir daran etwas auffällt. Vielleicht bin ich ja verrückt geworden und wir beschließen, dass da nichts zu sehen ist und du fährst morgen in der Früh nach Wien zurück und wir vergessen meinen, er lachte, Hilferuf.
Hoffentlich nicht, sagte ich, während die Fotos in einem zehnsekündlichen Rhythmus wechselten. Er erklärte mir seine Technik, wie schwierig es gewesen war, zur richtigen Uhrzeit die immer identen Wetterbedingungen vorzufinden. So wie man einen Film, dessen Handlung sich über einen einzelnen Tag erstreckt, immer nur bei bedecktem Himmel drehen kann. Also hatte er die Serie nicht über einen Monat, einen Mondmonat, verbesserte ich mich, hinweg geschossen? Keineswegs, ganz im Gegenteil, er lehnte sich zurück in seinen abgewetzten Thonet Sessel, verschränkte die Finger hinter dem Kopf, das war ja, wie immer, das Herausfordernde gewesen, die Organisation im Auge zu behalten, wenn eine Aufnahme wegen Bewölkung ausfiel, musste sie im Monat darauf zur exakt richtigen Nacht-, oder auch Tageszeit nachgestellt werden.
Wir waren durch und ich konnte die Enttäuschung darüber, dass mir nichts aufgefallen war, deutlich in seiner Stimme spüren, die ein bisschen schriller als noch kurz zuvor klang. Aber da war nichts zu sehen gewesen, außer dem ewig gleichen Platz auf einer Dachterrasse mit dem Blick nach Westen gerichtet, einem unscharfen Bereich von neuen, wohl im Nachtlicht glänzenden Metallschloten auf dem Ziegeldach des Nachbarhauses. Andere Häuser, die entlang der Blicklinie auf einen imaginären Punkt im Nachthimmel mit größer werdender Distanz immer schärfer wurden. Wir haben Zeit, sagte er noch einmal. Da hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass das vielleicht nicht mehr stimmte.
Die Kamera hatte er auf die immer gleiche Stelle durch die Schlucht der Dachlandschaft zwischen die Sterne hineingehalten, geschossen fast wie ohne Absicht, ins Geradewohl hinein voll Hoffnung. Für das endgültige Bild des Mondanalemmas hatte er ein letztes Foto der Zitadelle in den frühen Abendstunden geschossen. Er hatte den hellen Abendhimmel für die Grundlage der übereinandergelegten Monde, und so das Motiv des Bauwerks auf dem grünen Berg deutlicher herausarbeiten können und vor allem war zu dieser Stunde der Mond nicht im Bildausschnitt gestanden. Zum Schluss hatte er die einzelnen Mondbilder auf dieser Grundlage übereinandergelegt und schließlich die Layer miteinander verbunden.
Bereits beim zweiten Bilddurchlauf begann meine Aufmerksamkeit abzudriften. Ich wollte vorschlagen, dass er mir stattdessen die Stelle zeigte, von der aus er die Fotos gemacht hatte, es konnte sich nur um eine Dachterrasse im selben Haus handeln, nahm ich richtigerweise an. Aber das wäre unfreundlich gewesen und ich wollte ihn nicht brüskieren oder ihm das Gefühl geben, dass er sich lächerlich machte, zu glauben, dass gerade ich von besonderer Hilfe hätte sein können. Er war schließlich ein ganz normaler Typ, der normalste wahrscheinlich, der mir in letzter Zeit bei solchen Aktionen untergekommen war. Ich nahm mich zusammen und starrte weiter auf den Bildschirm. Es roch nach frisch gemachtem Kaffee, es war etwas Neues, das sich einer scheinbar leeren Wohnung ausbreitete. Er plante länger wachzubleiben, und ich fragte mich, ob ich kurz eingeschlafen war, denn er hatte sich nicht von meiner Seite bewegt. Und als hätten meine Sorgen etwas bewirkt, stand er plötzlich und viel zu schnell auf und ging ein paar Mal auf und ab. Der Geruch zog mich zurück in untergegangene Zeiten, als unsere Leben noch so viel leichter gewesen war. Leichter? Ja, diese verschwundenen Menschen waren sorglos mit ihresgleichen und den Dingen, die sie erstanden hatten, umgegangen. Da erschienen mir die banalen Feststellungen als die vernünftigeren: Sie hatten gelebt, als hätte es nie ein Morgen geben können. Und, siehe da, eines Morgens war ein anderer, ein neuer Tag angebrochen und die Alten waren verschwunden gewesen. So kam mir das vor. Er blieb stehen, beobachtete mich, und setzte sich dann wieder zu mir.
Und so endete der zweite Bilddurchlauf ebenso erfolglos wie der erste.
Ich lehnte mich zurück, ahmte seine verschränkten Hände nach und betrachtete ihn. Er schien undurchdringbar, obwohl ich mir einiges drauf einbildete, in jeden Menschen tief hineinblicken zu können. Sein Hemdkragen fiel mir auf, er war abgenutzt, nicht besonders, aber immerhin doch so sehr, wie ich es nur aus meiner Kindheit oder Jugend kannte. Heute hätte sich niemand mehr so eine Blöße geben wollen. Ein runder, moderner Vollbart. Eine Brille, bei der nicht klar war, ob sie alt oder besonders neu war, wahrscheinlich ersteres, aber konnte ich so etwas wissen? Ebenso wie ich trug er den Bauch des modernen Sitzarbeiters vor sich her.
Vielleicht, schlug ich vor, solltest du mir erklären, wieso du dich an mich gewandt hast, vielleicht lenkt das den Blick in eine andere, unerwartete Richtung, die uns beide weiterführt.
Mein Ruf wäre mir vorausgeeilt, in gewissen Kreisen hätte ich mir einen Namen gemacht. Wieder Stehsätze, die vielleicht auch der fremden Sprache geschuldet waren. Doch dann sagte er, dass er sich um das Verständnis untereinander, aber nicht nur, sondern das Verstehen von möglicherweise allem, was uns hätte bekannt sein sollen, große Sorgen machte. Ich lachte, ging wie von allein in meiner Rolle auf, der Knoten entwand sich dem Griff der völlig unberechenbaren Kälte und Hitze, des Wassers und des Sturmes, die man uns immer wieder und wieder angekündigt gehabt hatte, dachte ich und zitterte beinahe, weil mir kalt geworden war und ich mehr und mehr fühlte, dass er recht hatte: Irgendetwas stimmte hier überhaupt nicht mehr.
Ich vermute, sagte ich, dass auf den Bildern etwas fehlt. Er sah mich lange mit gesenktem Kopf über den Brillenrand an. Weil, wenn etwas dazugegeben wurde, hättest du mich nicht gerufen. Noch immer sagte er nichts. Das waren blinde Tapser im Trüben und er durchschaute mich.
Kommt diese seltsame Figur, fragte ich dann, die der Mond auf dem ersten Bild, dem Gesamtbild, diese seltsam in sich geschlossene Helix, mir fiel keine bessere Beschreibung ein, von der Laufbahn der Erde? Diese, meinte er, wäre vor allem bei Analemmata der Sonne relevant. Aber der Vergleich mit den Helices gefalle ihm gut. Die zur Sonne geneigte Achse der Erde, verbunden mit der unrunden Bahn um sie, ließ im Analemma einen Achter entstehen. Die Jahreszeiten sind der sichtbare Beweis dieser Unwucht, und dadurch ein entscheidender Mitgrund für das Leben auf diesem Planeten. Außerdem war dieses Bild der Helix selbst direkt aus der Natur entnommen. Ich sah ihn an. Pflanzenranken benützen diese Technik der Windung um ein Zentrum zur Verankerung und dem sicheren Fortwachsen. Da habe ich eher das Bild der Schlingpflanze vor mir, entgegnete ich, die etwas anderes, größeres und stärkeres niederringt. Wieder nickte er nur, komm, schauen wir uns die Fotos noch einmal an.
Doch die Fotos unterschieden sich nicht voneinander, bis auf den Mond, der sich, wenn man gedankenverloren ins Leere starrte, wie in einem Daumenkino veränderte, und unter ihm die Hausdächer, die sich im kleinstmöglichen, massereichen Fluchtpunkt fanden, der Zitadelle, und dann, wie seltsam, dieses Erkennen des Geheimnisses, das nicht viel mehr als ein ungläubiges Aufschlagen der Augen war, ich fühlte mich wie in einer Zeitlupe festgehalten und beinahe lachend hätte ich mir die Haare nervös nach hinten werfen wollen, während die Belustigung einem grauen Entsetzen wich, denn auf Bild Nummer siebzehn fehlte eines der Hausdächer, ja, ein ganzes Haus sogar.
Das ist es also, sagte ich, und was vorher ein Lachen hätte sein können, klang sicherlich verzweifelt, als ich nach einer Pause fertig sprach, was du gemeint hast.
Zufrieden lehnte er sich zurück, ich sah, dass vielleicht dieser eine Moment ihm schon eine größere Hilfe war als ich es für möglich gehalten hatte. Er klopfte mir auf die Schulter, wir verstanden uns und waren froh, dass er sich nicht für verrückt halten musste.
Das ist das Problem an der ganzen Sache, nickte er mir zu, während ich die Diashow schloss, die bereits einige Fotos weitergesprungen war und die Sechzehn und die betrügerische Siebzehn öffnete, sie zum Vergleich nebeneinander auf den Bildschirm zog. Nimm das Gesamtbild dazu, da unten, deutete er. Dann verglichen wir die drei Fotos. Wir unterzogen sie einer gründlichen Untersuchung. Ich fragte mich, ob vielleicht noch etwas anderes auf einem Bild fehlen konnte.
Doch es blieb dabei, auf einem Foto war eine Leerstelle, die von unten kommenden Lichtstrahlen der Straßenbeleuchtung drangen verschwommen ins Leere und verloren sich im freien Raum, einem Loch in der Stadtoberfläche in Wirklichkeit, und wurden von den Gebäuden und ihren roten Ziegeldächern im Hintergrund zurückgeworfen. Die anderen Fotos waren völlig ident, bis auf die Position des Mondes, aber das sagte ich schon.
Später standen wir rauchend auf der Dachterrasse, direkt über seiner Wohnung, untersuchten das in die gerillten Holzlatten geschraubte Stativ, zogen die Plastikhülle ab, fixierten die Kamera und betrachteten den Gellértberg im Sucher. Der Mond war nicht zu sehen. Er machte ein paar Fotos, alles war korrekt am Bildschirm, wie in der Natur, verortbar. Wir stimmten überein, dass der Grund für diese Anomalie, wie er das Fehlen des großen, schmucken Zinshauses nannte, nicht im, um es sportlich zu benennen, Materialbereich liegen konnte. Was hätte das Haus selbst beitragen können, fragte ich. Etwas resigniert hob er die Hände. Nichts, keine besondere Geschichte, die ihm bekannt gewesen wäre. Und dabei meinte er zum Beispiel, ebenso wie auch ich, einen verbrecherischen Hintergrund. Konkret dachte ich an die Zentrale eines terroristischen Geheimdienstes, oder etwas in der Art. Nichtsdestotrotz verwickelte ich ihn in ein schnelles Verhör, ich wollte ihn abklopfen, sehen wie er reagierte, wie lange er für Antworten brauchte, ob er nervös wurde. Er bestand den Test, hatte auf alles eine Antwort und alle Eventualitäten, die einfache Antworten hätten liefern können, überprüft und, letztlich, ausgeschlossen.
Ich nickte ihm zu, was er wohl nicht mehr wahrnehmen konnte, denn es war dunkel geworden, als er mich plötzlich als einen wahrgewordenen detective bezeichnete, ein Begriff, der sich nicht anstandslos übersetzen ließ. Also korrigierte ich ihn, nannte mich einen wissenschaftlichen Schnüffler, scientific private eye, was er sich ebenso umständlich, wie ich es hier im Nachhinein mache, erklären ließ. Er aber hörte für eine gute Zeit gar nicht mehr zu lachen auf, und erst als er die Lichterkette auf der Dachterrasse eingeschaltet hatte, saß wieder der ernste Fotograf neben mir, der sich nicht erklären konnte, wieso an einem Tag ein unverrückbares Detail auf einem Foto fehlte und wie es am nächsten Tag wieder da gewesen sein konnte.
Dann aber kam mir vor, als hätten die Zitadelle dort oben, dieses halbe Ziel des Analemmas, oder die Bäume auf diesem Hügel etwas damit zu tun. Näher konnte ich das nicht beschreiben, aber als ich mich so dahintreiben ließ, fühlte sich die Wohnung, in die wir schließlich wieder hinabgestiegen waren, so fremd und unbewohnt an, und ich fragte mich, ob vielleicht auch das Unternehmen, den Mond selbst auf seinem Weg rund um uns fotografieren zu wollen, für das Phänomen verantwortlich sein konnte. Ich fragte mich, ob das vielleicht bei allen Analemmata immer schon so gewesen war, denn es faszinierte mich, dass es unter den vielen Menschen auf dieser Erde etwas gab, dass nur in einer verschwindend geringen Stückzahl vorhanden war. Ein paar Dutzend hatte er für die Analemmata der Sonne vermutet. Ich konnte mir gut vorstellen, dass hier etwas Außerordentliches stattfand.
Das war das eigentliche Problem, erkannte ich, dass wir uns von den Gefühlen abgewandt wissen wollten, uns bei der Analyse unserer Probleme dennoch fast immer nur auf genau diese Unsicherheiten verlassen mussten. Es fehlte also, kurz gesagt, die Wissenschaft, die uns den Rücken hätte freihalten können. Dass das Verschwinden des Hauses etwas mit der Zitadelle und ihrer Geschichte zu tun hatte, schloss er aus, unsere Geschichte und Vergangenheit und ihre Ausrufe und Abbrüche waren, er überlegte, zu sehr von Menschen erdacht, das würde nicht ins Bild passen. Ich dachte, dass sich gerade etwas Nichtmenschliches gegen den Menschen richten könnte, sagte aber, im Versuch, seiner Argumentation zu folgen, dass das fehlende Detail auf einem Foto an sich viel zu brutal in unseren Erkenntnisprozess eingreife, gerade weil wir uns seit Jahrhunderten auf das Bild als den verlässlichsten Zeugen verlassen. Außerdem hätte ich ja, schloss ich, dann die Zitadelle selbst verschwinden lassen, und nicht etwa ein unbedeutendes Haus.
Er nickte, wenn etwas verschwindet, oder etwas in der Lage ist, die Dinge temporär verschwinden zu lassen, und zu unterdrücken, oder was auch immer es ist, dann ist das eine gewaltige, urwüchsige Macht. Ich stimmte zu. Es schien mir, griff ich den Gedanken von davor wieder auf, etwas mit dem Mond zu tun zu haben. Ein Fall eines Selenophil, grinste er. Überleg mal, sagte ich stattdessen, das ist kein Zufall, der Mond ist für uns, für alles hier von größter Bedeutung, du hast selbst von den Jahreszeiten gesprochen, und ich werde den Eindruck nicht los, dass hier etwas weggeräumt werden soll, als Zeichen oder auch als Warnung an uns alle. Weiter wusste ich nicht.
*
Wahrscheinlich blieben wir an diesem Punkt stehen, weil es danach kein Fortkommen gab, ich könnte es mir so vorstellen. Der Zug wird zum Glück gleich losfahren, die Leute auf dem Bahnsteig sind kaum zu beruhigen, herinnen, soweit man beim Kopfbahnhof Budapest Keleti von einem drinnen reden kann, in der riesigen Halle also, ist die Sommerhitze noch viel stärker zu spüren als draußen vor den gelben Mauern mit dem abbröckelnden Verputz, sie drängt sich zwischen die Menschen, treibt sie vor sich her, ohne dass sie es bemerken könnten. Auch die gestrige Nacht hat keine Abkühlung gebracht. Vielleicht hätten wir noch einmal die Dachterrasse untersuchen sollen, denke ich mir jetzt, alles unternehmen, um herauszufinden, was auf dem einen Foto wirklich geschehen ist. Die Idee des Motivs, eines falschen Motivs, oder unsere abgelenkte Aufmerksamkeit überhaupt, aufgreifen müssen? Als ich schließlich spät in der Nacht auf dem Bett im Hotelzimmer gesessen, die Schuhe zum ersten Mal losgeworden war, drehte ich den linken Schuh um, und es war kein Stein, der herauskullerte, sondern ein kleines Stückchen grünen, frischen Holzes, rund geschliffen und warm, wie eine Heimsuchung aus der Natur.
Peter Karoshi nahm auf Einladung des Österreichischen Kulturforums Budapest am Budapester Internationalen Buchfestival teil, welches von 28. September bis 1. Oktober 2023 stattfand.