Lavori in corso
Beim zweiten Mal war er gewarnt, und so trat er rechtzeitig vor das Haus, um den Flug des Helikopters darüber hinweg zu verfolgen. Helikopter bedeuteten Unglück, auf Berg und Autobahn, aber immerhin auch Hilfe. Er ging dem Fluggerät entgegen und erinnerte sich dabei an Kinder, die er vor ein paar Jahren kennengelernt hatte und welche andere Erfahrungen gemacht hatten: Sie liefen immer davon, wenn sie Rotorengeräusche hörten.
So einen Hubschrauber hatte er noch nie gesehen: Lang und dünn, ein bloßes Gerippe an einem dicken Cockpitkopf, unter dem Rotor aber eine bauchige Schwellung für das Löschwasser. Ein Insekt, dachte er, aus dem Wassertank hing ein Schlauch mit glänzendem Ansaugstutzen: Damit saugt es Blut. Der Hubschrauber war noch dazu in roter und gelber Warnfarbe gehalten. Der Beobachter schüttelte sich unwillkürlich vor Ekel und lächelte dann über sich. Das Fluggerät kam vom Brand am Horizont geflogen, seit zwei Tagen quoll Rauch aus einer Falte in der Bergseite, Flammen waren auf diese Entfernung nicht zu sehen. Das Feuer schien sich nicht zu bewegen, dennoch hatte man beschlossen, dass es Zeit für den Hubschrauber war. Gestern hatte er dem Impuls widerstanden, mit dem Auto in die Nähe der Brandstätte zu fahren. Er hatte Verständnis für seine Neugier, die Einheimischen vielleicht aber weniger, und mit Recht: Nutzen konnte er dort niemandem, schaden vielleicht wohl. Gestern hatte er auch das hektische Winken von Blaulichtern aus der Ferne gesehen, später den Nachbarn gefragt, ob dieser etwas gehört habe, der sagte:
„Sie haben eine Leiche gefunden“, und hatte dann noch hinzugefügt: „Sie wissen noch nicht, wer es ist.“
Sie hatten einander angesehen und für eine kurze Weile schweigend und miteinander über Feuer nachgedacht.
Zwanzig Minuten später schleppte der Hubschrauber ein drittes Mal Wasser an ihm vorbei, und war etwas später wieder zurückgekommen. Als er ein weiteres Mal über das Haus flog, war klar, dass sie den Tag miteinander verbringen würden. Der Mann holte eine Landkarte hervor und musste nur kurz suchen, bis er einen Teich in geeigneter Entfernung gefunden hatte. Er packte Jause und Getränke in eine Kühltasche und fuhr mit dem Auto hin. Dort war er nicht der einzige Schaulustige: Eine Handvoll Leute hatte sich herbemüht, einige hatten ihre Kinder mitgebracht. Es gab keine freien Sitzgelegenheiten, also setzte der Mann einen Hut auf und lehnte sich an sein Auto. Der Hubschrauber nahte, und es war ein prächtiges Spektakel: Er war groß, und er war laut, und er war mächtig, hinter ihm stand die Rauchwolke im Himmel, und er rettete sie alle. Die Erwachsenen und die Kinder zeigten mit Fingern auf die Maschine, lachten und weinten und schrieen einander an unter dem Dröhnen der Rotoren, der Teich spiegelte den Kreisel über sich in nervösen Wellen, routiniert senkte der Pilot das Gerät, bis es wenige Meter über der Wasseroberfläche zu stehen schien, der Schlauch wurde weiter herabgelassen, bis der Helikopter Wasser fasste. Das Insekt begann gierig zu trinken, während es dem Beobachter voll Bravado ins Gesicht grinste. Nach einer Weile stieg der Hubschrauber wieder auf und flog Richtung Brandstätte, verschwand aber bald hinter einer Hügelkette. Zwei Dutzend Augenpaare folgten ihm mit beifälliger Zuneigung, und nur die Rauchwolke wies den Weg, die den Beobachter an eine Pinie erinnerte und damit an einen Vulkanausbruch denken ließ – wie immer führte jedes Bild nur in ein anderes. Der Mann beschloss, ein weiteres Mal auf den Hubschrauber zu warten, und danach noch einmal. Er aß seine Jause, trug Sonnencreme auf, ließ sich auf ein Bier aus einer Kühltruhe einladen und plauderte über Regionalligafußball sowie das neugebaute Amazon-Logistik-Center in der Nähe, teilte das Bild der Pinienwolke und tauschte sich mit einer Frau über den Vesuv aus: Sie waren sich einig, dass sie die Spannung von Naturkatastrophen aus großem zeitlichen Abstand betrachtet leichter genießen konnten. Der Mann erheiterte sich an wirren Assoziationen und Bildern, in denen er einen Hubschrauber einsetzte, um einen Vulkan zu löschen, meinte einmal eine entsprechende Micky-Maus-Geschichte gelesen zu haben, und fuhr in bester Stimmung wieder nach Hause. In der folgenden Nacht schlief er fest und traumlos durch.
Am nächsten Morgen trat er mit Kaffee in der Hand vor das Haus, blickte wie immer auf die Bergflanke und musste zum ersten Mal suchen, in welcher der drei Falten es denn tags zuvor gebrannt hatte. Es beruhigte ihn aber nicht, dass das Feuer gelöscht schien – stattdessen machte sich unwiderstehlich der Gedanke breit, dass es jeden Moment wieder losgehen musste. Er schüttelte ihn ab und richtete sich mit wenigen Handgriffen und wie in ferngesteuerter Routine her, um nach Rom zu fahren: Rasur, Dusche, hauptstadttaugliches Gewand hatte er bereits am Abend zuvor herausgelegt. Eine halbe Stunde später las er in dichtem Montagmorgen-Verkehr in Leuchtschrift den Hinweis Lavori in corso. Die Bauarbeiten waren ihm zuvor vom Routenplaner angezeigt, und entsprechende Verzögerungen eingeplant worden. Und selbst wenn er sich doch verspäten sollte – er war für eine Lesung auf der Universität bestellt – gab es in diesem Moment nichts, was er dagegen tun konnte. Links und rechts, vor und hinter ihm standen seine Mitmenschen in alltäglicher Sicherheit und warteten darauf, gemeinsam mit ihm den nächsten Gleichschritt auf ihr Ziel zu zu machen, sobald sich der gestockte Verkehr wieder etwas löste. Ein Blick auf die Uhr: Alles war im zeitlichem Rahmen. Dennoch verzog er das Gesicht; die Warnung hatte ihm wehgetan. Verständnislos tastete er nach dem Schmerz, bis ihm eine Stimme mit Panik an den zitternden Rändern zurief: What does in corso mean?
Vor ein paar Jahren war er zum letzten Mal auf dem Vesuv gewesen, wie schon davor eine verstörende Erfahrung, aus dem krautigen Unterholz in graue, steinige Ödnis vorzustoßen, an Verkaufsständen glitterbestreuten Engeln und Marienstatuen aus Tuffstein beim Beten zuzusehen, um nach einem Fußmarsch trotz aller Vorwarnung dem Vulkan unversehens ins Maul zu stürzen, in den Krater zu blicken, der ihm schließlich unheimlich wie ein Nabel vorkam, eine verschlossene Öffnung, wie das blinde Auge eines Sehers. Seine Augen tränten, wieder einmal hatte er den feinen Staub unterschätzt, den der Wind freigiebig verteilte, und er beeilte sich, von dem Berg wieder hinunterzukommen. Der Himmel war bedeckt, es war trotz des Windes heiß und schwül, in zwei Reihen stolperten die Menschen bergauf und bergab aneinander vorbei, nur da rechts verharrte ein Grüppchen in hektischer Bewegung, ein Mann vielleicht Ende 50, Anfang 60 lag auf dem Boden mit der Regungslosigkeit eines Toten, eine junge Frau führte die Herzmassage aus, eine ältere Frau saß daneben, und ein junger Mann, der ein oranges Kästchen bediente, von dem aus zwei Drähte zu dem Regungslosen führten.
„Operazione in corso“, sagte das Kästchen.
Sie waren eine Insel auf dem Vulkan, die zwei Menschenkarawanen stockten dort, stauten sich, zogen weiter. Einer starb, jemand tat etwas dagegen, das orange Kästchen sah nach Erster Hilfe aus, Einsatzkräfte waren hoffentlich unterwegs. Der Mann blieb stehen und sah hilflos zu, blickte dann nach links auf die Bergkante, war dort jemand zu sehen, in Rot? Wo konnte hier ein Hubschrauber landen? Unten auf dem Parkplatz wahrscheinlich.
„Operazione in corso“, sagte das Kästchen.
Der junge Mann rief mit Wut und Panik in der Stimme: „What does in corso mean? What does in corso mean?“
Und die ältere Frau rief: „Can somebody please give this lady a break?“
This lady – eine Fremde mühte sich also da über diesem Menschen – what does in corso mean? – er tat einen Schritt nach vor, sagte: „On-going. In corso means on-going. It means the analysis is on-going.“ Der junge Mann und er sahen einander an, beiden stand der Mund offen, und die Irrelevanz der Information, die erfragt und soeben als Auskunft erteilt worden war, die tat einen tiefen Schlund auf, in dem jeder Sinn verschwinden konnte. Er tat einen weiteren Schritt nach vor, wider Willen war er das fünfte Mitglied dieser Gruppe geworden, der nächste Schritt ging leichter, dann kniete er neben dem Regungslosen, maß zwei Handbreiten ab und übernahm die Herzmassage. Schon beim ersten Druck meinte er zwei gebrochene Rippen zu spüren, er hob die Augen und suchte den Blick der jungen Frau – can somebody please give this lady a break? – und zu seinem Unbehagen las sie daraus einen Vorwurf heraus, sie senkte den Blick.
„Operazione in corso“, sagte das Gerät.
Dann pumpte er und schwieg. Er empfand die Tätigkeit als sinnlos – dieser Mann war tot. Er ekelte sich. Dann fragte er sich plötzlich, ob das Kästchen, das nach wie vor regelmäßig auf sich aufmerksam machte, nicht etwa gar ein Defibrillator war, während er die Hände auf diesem Menschen hatte. Die anderen sagten nein. Sonst fragte er sie nichts, er wechselte sich zwei Mal mit der jungen Frau ab, der junge Mann sagte irgendwann, dass es nun schon 30 Minuten seien. Als sich ein Sanitäter neben ihm auf den Boden kniete, machte er sofort Platz, stolperte zur Seite und ging mit raschen Schritten davon. Er fragte sich zwar, ob jemand vielleicht seine Daten brauchte, ob er nicht etwas austauschen sollte mit jenen, mit denen er auf einer Insel auf dem Vesuv gesessen war, aber er hatte schon viel mehr mit diesen Leuten geteilt, als er hatte wollen.
Nun stand er im Stau auf dem Grande Raccordo Anulare und blinzelte, ließ sich schließlich vom Verkehr treiben und kam zu früh bei dem Treffpunkt an, wo ihn sein Gastgeber auf den Parkplatz der Universität einlassen würde. Also fuhr er weiter, bis er eine Stelle fand, wo er in Ruhe warten konnte, stellte das Auto ab, stieg aus und lehnte sich an den Wagen. Er atmete einmal tief aus, verbarg das Gesicht in den Händen, dann legte er den Kopf in den Nacken und öffnete die Augen. Er sah in die Krone einer Pinie, schwarz gegen den Morgen und die Sonne, und meinte für eine Sekunde eine Aschenwolke am Himmel zu sehen.
Sein Gastgeber winkte ihm zu, er solle ihm folgen, und ließ ihn auf den Parkplatz der Universität fahren. Das Gebäude, sagte der Professor dann, sei einmal eine Fabrik von Alfa Romeo gewesen, dann habe man dort Panzermotoren für die Nazis gebaut, jetzt sei es eben eine Universität.
„Eine lobenswerte Entwicklung“, sagte der Mann dazu, „also alles in allem.“ Auf dem Weg zum Haupteingang und durch die Gänge der Uni liefen sie durch hunderte Studierende. „Wir versuchen sie wieder persönlich an der Uni zu haben“, sagte der Gastgeber, mit einer Handbewegung beschrieb er einen Kreis um die gesamte Pandemie, „alles nicht so einfach.“
Zahlreiche offene Türen sahen ihnen beim Vorbeigehen zu.
„Ja“, sagte der Mann.