Jenseits von Richtig oder Falsch
Zwischen Frankreich und mir stand immer etwas: die Sprache. Nicht, dass ich sie nicht mögen würde, aber ich habe sie nie in den Griff gekriegt, sie erschien mir stets widerspenstig, cleverer, überlegener, ein bisschen hinterlistig sogar. Dabei fing ich früh an, mir Französisch zu eigen machen zu wollen. Schon in der Grund-, also Volksschule lernte ich es, denn ich bin in Köln aufgewachsen, wo der französische Einfluss stärker war und ist. Zudem waren die achtziger Jahre noch sehr stark geprägt von der Einsicht, dass eine deutsch-französische Freundschaft unabdingbar ist für den Frieden auf dem Kontinent. Damals, so bilde ich mir ein, war die deutsche Gesellschaft von diesem Geiste durchdrungen; als ich 1985 eingeschult wurde, lag der Zweite Weltkrieg gerade einmal 40 Jahre zurück.
Im Gymnasium setzte ich den Französischunterricht fort. Und es gab Zeiten, da bemühte ich mich wirklich. Einige Wörter, die sich als Lehnwörter im Persischen etabliert hatten, kannte ich ja schon. Aber es war, als entzöge sich die Sprache mir jedes Mal in dem Moment, in dem ich kurz glaubte, sie eines Tages beherrschen zu können. Das Kräfteverhältnis blieb immer das Gleiche. Irgendwann, ich glaube mit 16 oder 17 Jahren, gab ich auf.
Vermutlich deshalb hatte ich Frankreich immer gemieden. Als ich auf Einladung der OeAD-Lektorinnen Lena Druml und Katharina Jechsmayr nach Montpellier und Aix en Provence reiste, war ich rund 20 Jahre nicht mehr in Frankreich gewesen. Dort angekommen, spürte ich gleich auf seltsame Weise, dass es mir gefehlt hatte. Und ich freute mich über die sehr zaghafte Rückkehr meines Französischvokabulars, das ich auf Ewigkeiten verschollen gewähnt hatte. Die Reise nach Frankreich glich für mich einer Reise in die Vergangenheit.
Im Seminar saß ich dann allerdings sehr jungen, sehr gegenwärtigen Studierenden gegenüber. Der Zweite Weltkrieg liegt bald 80 Jahre zurück und zur Notwendigkeit der deutsch-französischen Freundschaft haben sich viele andere Notwendigkeiten hinzugesellt, die internationalen Beziehungen scheinen um einiges komplizierter als damals. Und auch die Motive für junge Menschen in Frankreich, Germanistik zu studieren, sind vielfältiger geworden. Nehme ich zumindest an – jetzt, wenige Wochen später an meinem Schreibtisch in Graz sitzend, hätte ich gerne mehr über die Motive erfahren.
Aber die Studierenden haben so viele Fragen gestellt, dass mir kaum Zeit blieb, ihnen Fragen zurückzustellen. Ich habe stattdessen ausführlich geantwortet, denn mir war wichtig, ihnen eine, meine von Migration geprägte Sicht auf die deutschsprachige Gegenwartsliteratur, und damit auf die deutsche und österreichische Gegenwart zu liefern. Die Literaturszene hat begonnen, sich zu entgrenzen; am offensichtlichsten bezüglich der Herkunft der Schreibenden, aber auch hinsichtlich Geschlecht und Klasse. Während ich lange noch dachte, Literatur, „echte Literatur“, fließe hauptsächlich aus der Feder alter, weißer Männer, liefern die neueren Romane ein anderes, ich behaupte vollständigeres Bild unserer jüngeren Geschichte. Sie erzählen endlich von Gastarbeiter-, von Schwestern- und Mutterschaft, sie erzählen vom Aufbrechen der Geschlechterrollen und sexuellen Orientierungen, vom sozialen Aufstieg mit all seinen Konflikten, von hybriden, fluiden Identitäten und sie erzählen all das in einem Deutsch, das sich ständig wandelt, versucht, Machtstrukturen zu entlarven und zu beseitigen, in einem Deutsch, das „nur“ Zweitsprache und von einer Erstsprache geprägt ist, und das in manchen Ohren manchmal sogar falsch klingt. Doch es mutet inzwischen schon anachronistisch an, von falschem und richtigem Deutsch zu sprechen.
Wer weiß, wenn das vor 30 Jahren schon so mit Französisch gewesen wäre, vielleicht spräche ich es dann heute. Bestimmt sogar, vermutlich mit vielen Fehlern, aber ich spräche es. Das ist für mich Schreiben: das Bemühen, sich mitzuteilen, nicht aufzuhören, es immer weiter zu versuchen, jenseits von Kategorien wie richtig oder falsch.