Bowling Green, Ohio, USA
Bowling Green is a lot, wrapped in a disguise of not much.
Bowling Green ist die Main Street, mit ihren Armen nach Norden und Süden, ausgestreckt nach Kroger auf der einen und Walmart und Aldi auf der anderen Seite. Auf einem langen Kreuz mit der Wooster Street, die mir im Westen einen Ort zum Spazieren und für ausgesuchte Biere und im Norden ein temporäres Zuhause gibt. »Behind Fricker´s«, sage ich, wenn mich jemand fragt, wo ich wohne, und schaue für die Verhältnisse einer Kleinstadt erstaunlich oft in fragende Gesichter. Ich lerne nicht viele Menschen kennen, die hier in Sports Bars gehen, auch wenn die Brew City Fries dort die besten der Stadt sind.
»Where Bob Evans is«, sage ich und muss jedes Mal an die erste Beschreibung denken, die ich von der Restaurantkette bekommen habe, am Tag meiner Ankunft in Ohio: »a greasy spoon restaurant«, und: »it´s where families go after church on Sunday«.
Ein paar weitere nickende, wissende Köpfe und ich erreiche den letzten Stopp meiner Verortungsreise: »It´s right next to I-75.«
In der Nacht höre ich die Trucks und Pick-Ups über die Interstate röhren und auch nach vier Monaten bin ich mir manchmal immer noch nicht sicher, wann einer von ihnen eigentlich ein Hubschrauber ist. Auch sie fliegen hier, ich sehe nachts die weiß blinkenden Lichter weit hinter der Interstate, wo sie zu landen scheinen, und habe noch immer nicht nachgeschaut, was sich dort befindet.
Aber es hat sich schnell als etwas nicht Außergewöhnliches in meine Wahrnehmung eingegliedert, after all ist Ohio The Birthplace of Aviation, wie mir Nummernschilder auf jedem Parkplatz erzählen.
Es ist auch The Heart of it all. Etwas, das ich jedes Mal wieder laut und mit Schwung in meiner Stimme vorlesen muss, wenn ich von einem anderen Bundesstaat zurück nach Ohio komme, selbst wenn ich allein im Auto sitze. Oder vielleicht auch gerade dann.
In dem Auto, das meines ist, denn Bowling Green hat mich zu einer Person gemacht, die »my car« sagt, obwohl ich nie vorhatte, eines zu besitzen, obwohl es sich immer noch jedes Mal wie eine Lüge anfühlt, von meinem Auto zu sprechen. Dieses blaue Auto mit der Innenausstattung aus weißem Kunstleder, in dem ich an meinem Lenkrad auf Cruise Control drücken kann und mich dann als scheinbar einzige Person in Ohio an die Geschwindigkeitsbeschränkung halte. Als scheinbar einzige Person in Ohio, aber ganz sicher als einzige Person in Michigan, wo mir die Badewannen-großen Schlaglöcher auf den Straßen jedes Mal aufs Neue ein »What the fuck« entreißen, das meine Vokale langzieht, und die mich dank der in die Jahre gekommenen Stoßdämpfer auf und ab schaukeln, wie ich es mir in einem Jeep in der Steppe vorstelle.
Irgendwann während meiner vier Monate fange ich eine unvollständige Liste an Roadkill an, das ich am Straßenrand sehe, drei ganze Rehe sind darauf notiert, unzählige Haufen aus Fellbüscheln und Blut, die einmal Füchse, Waschbären oder Marder gewesen sein mögen, die Fragezeichen nehmen irgendwann Überhand auf meiner Liste. Einmal sehe ich eine Wildgans.
Auch über dem Parkplatz vor meinem einstöckigen Apartment-Komplex, auf den mein einziges Fenster hinausgeht, kreisen die Wildgänse, fliegen Schleifen über die Interstate, meinen Parkplatz, und dann wieder zurück zu dem kleinen Teich hinter dem Football-Stadion. Morgens wecken sie mich manchmal mit ihrem eigenwilligen quakenden Rufen, gemeinsam mit den Vögeln, deren Rufe ich nicht kenne und die gerne auf der Regenrinne vor meinem Fenster sitzen, unter der ein Feuerlöscher angebracht ist. Kurz bevor ich Bowling Green wieder verlasse, sackt eine der Deckenbeleuchtungen am Ende des Außenganges, der zu unseren Wohnungen führt, ab und offenbart, dass dort wohl schon länger an einem Nest gebaut wurde. Die Lampe beleuchtet weiter die Tür der einzigen meiner Nachbar*innen, die die ungeschriebene Regel, nicht beim Vorbeigehen in die Fenster der anderen Wohnungen zu schauen, missachtet und deren langsame, schwere Schritte mich anfangs jedes Mal an den US-amerikanischen Axtmörder denken haben lassen. Jedoch ist das einzige, das sie hinter sich her schleift, ihr Müllsack. An der Ostseite des L-förmigen Wohnkomplexes, der früher einmal ein Motel war, steht der Müllcontainer. Er ist so groß, dass ich nicht über seinen Rand sehen kann und wir alle werfen unseren ungetrennten Müll, unsere Milchkanister, Stühle und Essensreste, in hohem Bogen hinein und ich frage mich jedes Mal, ob in den kleinen Käfig daneben, eine Lebendfalle, jemals ein Tier hineinstolpert.
Mit Ausnahme der Tage, an denen ich für Lesungen oder Reisen in anderen Städten bin, stehe ich jeden Abend beim Zähneputzen in der offenen Tür meiner Wohnung und blicke auf das leer stehende alte Motel, das zwischen Parkplatz und Interstate liegt, während ich versuche, zu lüften. Lediglich an den Tagen, an denen es minus 25 Grad hat, halte ich Abstand von der Tür und verkürze meinen Lüftungszeitraum, wind chill advisory – could cause frostbite on exposed skin in as little as 30 minutes, steht in meiner Wetterwarnung.
Es sei ein milder Winter heuer, wird mir erklärt, denn immerhin hält diese große Kälte nur eineinhalb Wochen an.
Dass diese eineinhalb Wochen in den Zeitraum vor meinen Autokauf fallen, muss wohl so sein, und so finde ich eines Abends, nachdem ich etwas länger als im Live Tracker angezeigt auf den Universitäts-Shuttlebus warten muss, zwei auf meine Oberschenkel gehauchte Anflüge von Frostmalen. Öffentlichen Verkehr gibt es in Bowling Green nicht.
Anfang April bricht plötzlich eine Sommersonne aus den big skies, auch wenn der Wind eiskalt bleibt. Ich lerne, dass Bowling Green südlicher als Rom liegt und trage ausgerechnet von der totalen Sonnenfinsternis ein glühend rotes Gesicht nach Hause.
Die big skies sind es auch, die ich vermissen werde, sage ich, wenn ich danach gefragt werde. Keine Alpen, kein Kahlenberg, nicht einmal der kleinste Hügel schränkt hier den Atem meiner Augen ein. Oft bleibe ich auf der Straße stehen und schaue nach allen Seiten, sauge die Himmelsspanne ein, bis mir einfällt, dass ich hier als Spaziergängerin ohnehin schon heraussteche, und gehe schnell weiter. Bei einem Ausflug brauche ich von Cleveland bis nach Sandusky, um zu verstehen, dass es der fehlende Salzgeruch in der Luft ist, der mich beim Blick auf den Lake Erie irritiert. Es ist, als ob das Treppenhaus meiner Kindheit plötzlich eine Stufe weniger hätte. Big skies, big lakes, fake seas.
Die big skies werde ich also vermissen, sage ich, meine Studierenden und Kolleg*innen, die Eichhörnchen vor meinem Bürofenster, die hier so viel größer sind als ich es gewohnt bin, den regelmäßigen Paycheck, den Geruch in Grounds for Thought, dem Café an der Main Street, das gleichzeitig ein Second-Hand-Buchgeschäft ist, und Pecan Pie.
Die österreichische Autorin Katherina Braschel war von Jänner bis April 2024 Max-Kade-Stipendiatin an der Bowling Green University in Ohio und unterrichtete dort Kreatives Schreiben.