1.
Am Anfang steht eine gute Woche kinderlose Zeit, die mir übrig geblieben ist, weil ich nach 30 Jahren widerwilligen, aber gehorsamen Mittuns beschlossen habe, das Schifahren ab sofort zu verweigern. Und dann der Beitrag über Nashira, der mich angefixt hat. Mitten im ruralen Machismo Kolumbiens gibt es ein matriarchales Ökodorf, in dem ziemlich viel richtig gemacht wird, auf eine Weise, mit der man vielleicht die Welt retten könnte. Egalitäre Prinzipien, Sozialprojekte, Gewaltfreiheit, Öko-Landwirtschaft ohne Kokain, eine Community abseits von Gott und Jesus: Feministinnen wie ich kriegen feuchte Augen, wenn sie draufkommen, daß es tatsächlich gelebte Alternativen zum Patriarchat gibt. Mein Essay-Projekt »Das Ende des Phallozäns« braucht reale Perspektiven, und die Menschen in Nashira leben sie einfach. Ich habe die Mailadresse der Gründerin Angela Dolmetsch herausgefunden und gefragt, ob ich recherchieren darf. Ich habe eine Einladung bekommen und einen Projektantrag gestellt. Ich hab ein Stipendium erhalten und ganz frech bei der Auslandskultur angeklopft.
Ein paar Wochen später steige ich aus dem Flugzeug und werde gleich beim Gate vom Botschafter abgeholt. So einen roten, langen Teppich hat man mir noch nie ausgerollt; schon gar nicht, wenn es um Frauendings geht. Falsch: Erst recht nicht, wenn es um Frauendings geht. Wieder falsch: Schon gar nicht von Männern, wenn es um Frauendings geht.
2.
Ich bin überfordert. Vier verschiedene Arten von Maracujas, und das schon zum Frühstück.
3.
In der Residenz des Botschafters wurde Augarten-Geschirr aufgedeckt, das Personal trägt weiße Handschuhe, und aus der Flasche wird mir Sauvignon Blanc aus der Südsteiermark eingeschenkt. Der Botschafter hat eine beeindruckende Frauendelegation zusammengestellt: UN-Women, Ruta Pacifica de las mujeres, eine Universitätsprofessorin … Während ich versuche, zu erklären, was ich hier suche und worum es in meinem Text gehen wird, wird mir klar, dass ich mein Anliegen wieder einmal um diese eine Dimension erweitern muss: um die der kolonialen Schubumkehr. Ich kenne das aus meinem Besuch in Ghana 2023, als ich meinem kleinen, afrikanischen Sohn Sklaverei, Kolonialismus und Ausbeutung erklären musste, und all das in einer der Sklavenburgen an der westafrikanischen »Gold«-Küste, vor der Kapelle, die in ihrer Mitte trohnt, errichtet direkt über den Verliesen. Der Rechtfertigungsapparat inmitten der humanistischen Schweinerei. Wie alles zusammenhängt: die Herrenmenschen, der Missbrauch der Indigenen, der Frauen, die Ausbeutung der Ressourcen, und die Religion. Das christliche Europa hat die ganze Welt vergewaltigt, nach bestem Wissen und Gewissen, jahrhundertelang. Wir nennen das Geschichte, Wirtschaft, Kultur, Entdeckung, und lernen von klein auf, daß Grausamkeit eine Norm war und ist. Eine historische Haltung wird uns bestenfalls für die Zeit zwischen 1938 und 1945 abverlangt. Was die Reflexion seiner globalen, historischen und humanistischen Schädlichkeit betrifft, ist Europa ein Entwicklungsland.
Ich bin gewohnt, daß die Akademikerinnen aus Europa kommen und uns erklären, wie Feminismus geht, sagt die Universitätsprofessorin Lina Luna. Schön, wenn es mal umgekehrt ist und sie was von uns wissen wollen! Ich notiere: Wir brauchen die indigenen Völker dieser Länder, um das Patriarchat mit all seinen Ausprägungen zu ent-lernen. Wir brauchen die matriarchalen Wurzeln ihrer Kulturen, die bei uns so gut wie ausgerottet sind. Wir brauchen Vorbilder, die uns zeigen, dass der Parasitismus unserer Spezies kein Naturgesetz ist, oder, wie der nigerianische Philosoph Bayo Akomolafe es sagt: wir brauchen eine neue Kosmologie.
4.
Lina Luna zeigt uns die Laguna Guatavita. Wie ein blaues, kreisrundes Auge liegt der einst heilige See in einem Krater, der nichts mit Vulkanen zu tun hat. Eldorado: die Sage vom »Goldenen Mann« ist eine Geschichte der kolonialen Grauslichkeiten. Der »Goldene« waren viele Männer, die bei Ritualen in die Mitte der Lagune gefahren wurden und dann ins Wasser sprangen. Dabei haben sich ihre Goldscheiben und Nasenringe, mit denen sie beklebt waren, gelöst und sind auf den Grund der Lagune gesunken. Die Conquistadores wollten dieses Gold natürlich. 1545 gelang es ihnen, das Wasser mit Kürbisschalen abzuschöpfen. 1580 versuchten sie, einen Keil in die Kraterwand zu schneiden, um das Wasser abzulassen – ein Unterfangen, bei dem Hunderte Indios starben. Noch 1889 versuchte sich ein Brite an der Trockenlegung des Sees. Das Gold stellte sich letztendlich als wertlos heraus, weil es mit anderen Metallen legiert war. Im Goldmuseum in Bogota stehen wir mit offenem Mund vor den Schätzen der Lagune: hunderte Goldscheiben, »Tunjos«-Figuren, Nasenringe. Heute ist die Lagune nationales Erbe und streng geschützt. Indigene Muisca führen durch das Gebiet. Der Riss am Rand des Kraters, den man noch sehen kann, begreifen sie als Vergewaltigung der Lagune. Wir dürfen uns von der Gruppe absetzen und ein Ritual machen.
5.
Mehrere Frauen haben uns »Los Fragmentos« empfohlen. Es ist eine Kunstinstallation von Doris Salcedo: eine Gedenkstätte für die sexuelle Gewalt, die Frauen während des bewaffneten Konflikts mit der FARC erlitten haben. Ebendiese Frauen haben mit Hämmern Formen bearbeitet, in die dann geschmolzene Waffen gegossen wurden. 37 Tonnen Metall wurden so verarbeitet, 9000 Waffen aus den betroffenen Gebieten wurden eingesammelt und zu begehbaren Platten transformiert. Man geht über diese riesige Skulptur, begreift die Zusammenhänge und spürt das Leid, die Leere, aber auch den Ausweg. Ich frage mich, ob wir in Europa Gedenkstätten für sexuelle Gewalt haben, wo es doch eine Tradition der Gewalt an Frauen gibt, die sich in jedem Konflikt entlädt. Ich finde zwei Gedenkstätten: eine in Berlin und eine in Budapest.
6.
Angela Dolmetsch führt uns durch das Dorf. Es ist ein Projekt, sagt sie, es wandelt sich, es ist »Work in Progress«. Seit 20 Jahren gibt es Nashira. Seit 20 Jahren kein Mord, keine schwangeren Teenager, und ein paar gewalttätige Männer wurden des Dorfes verwiesen: Die Erfolgsgeschichte zeigt sich in all dem, was nicht passiert ist. Auch an Nashira ist Corona nicht spurlos vorübergegangen. Das Restaurant ist geschlossen, der Strom und das Wasser für die ÖKO-Landwirtschaft waren zu teuer, und der Brennofen für die Keramik ist kaputt. Aber Maria Enedie, die uns beherbergt, hat schon viele Schildkröten-Schalen produziert, die auf den neuen Ofen warten. In der Recyclingstation wird jeden Tag heftig gearbeitet, und während wir filmen, werden die ersten Solarpanele geliefert. Die Zukunft, sagt Angela und blinzelt in den Himmel, liegt in der Sonne.
Gertraud Klemm hielt sich von 30. Jänner bis 8. Februar 2024 als Stipendiatin in Bogota auf.