Eva Menasse unternahm im Oktober 2022 eine Lesereise mit Terminen am Goethe-Institut in Neapel (24.10.) und am Österreichischen Kulturforum Rom (28.10.).
Italien normal machen
Ich war noch nie in Italien. In fast jedem Jahr meines Lebens war ich in Italien, aber noch nie richtig, so fühlt es sich an. Was und wo ist das richtige Italien?
Als ich ein Kind war, verbrachten wir jeden Mai zwei Wochen in Jesolo. Unter dramatisch klingenden Vorwänden („die Lunge, meine Tochter hat es an der Lunge, sie muss ans Meer“) befreite meine Mutter mich von der Schule und meine kleine Schwester gleich mit („die Große hat es an der Lunge – wir können sie doch nicht alleinlassen!“). In Wahrheit bevorzugten die reichen, kinderlosen Freunde meiner Eltern genau jene Zeit, die garantiert schulkinderfrei war. Es aber schon warm war. Das Meer noch quallenfrei, der Strand leer. Die Hoteliers noch freundlich waren, anders als im September, nachdem Österreich scheinbar zur Gänze hier durchgeschleust worden war, sich mit Spaghetti vollgefressen und liegestuhlreihenweise sonnenverbrannte Bierbäuche zur Schau gestellt hatte.
Aber Jesolo war nicht richtig, die Bettenburgen, die Shoppingmeilen, der Luna Park, so sehr ich es geliebt habe: Das war doch bloß an die Adria verlegtes Österreich. In der Jesolozeit fuhren wir auch nach Venedig, jedes Mal für einen Tag. Traghetto, Tramezzini, Tauben jagen auf dem Markusplatz. Mit vier Jahren hat man mich auf einen der steinernen Löwen gesetzt und seither behauptet, ich hätte „bitte Schilling einwerfen“ gesagt, so als ob ich auf einem dieser elektrischen Schaukelautomaten (Drachen, Pferde, Hunde, Elefanten aus Hartplastik) in Wien säße. Das klingt exakt nach den Witzen meines Vaters – ich würde inzwischen wetten, dass er es war, der bei dem Anblick seiner kleinen Tochter auf dem Rücken des steinernen Löwen „bitte Schilling einwerfen“ gesagt hat. So entstehen Anekdoten, aber es rührt mich gerade, dass sie sich noch Jahrzehnte später zur Wahrheit rück-entwirren lassen.
Venedig war auch nicht richtig, dieses überlaufene Freiluftmuseum. Jeder Venedig-Tourist ist ja ununterbrochen bemüht, das „richtige“ Venedig zu finden, zwischen den Millionen anderen Touristen, an ihnen vorbei, hinter ihren Millionen Rücken. Nur selten, frühmorgens, sieht man richtige Venezianer irgendwo zusammenstehen, wie Verschwörer, sie verschwinden, sobald man sich ihnen nähert. Sie müssten sonst wieder den Weg erklären.
Auf der Rückfahrt von Jesolo besuchten wir jedes Mal Minimundus („Die ganze Welt im Maßstab 1:25“) in Kärnten, und diese beiden Orte gehörten für mich seither zusammen: die künstlich wirkende Stadt im Wasser, voller Brückchen und Gondeln und verwittertem Putz, und der Park mit den geschrumpften Sehenswürdigkeiten der Welt, zum zwischen drin Herumstiefeln.
Viel später habe ich ein Jahr lang in Rom gelebt, in der Villa Massimo. Das ist ja nicht Italien, sagten die Italiener etwas herablassend zu mir, in Wahrheit ist es viel lauter, chaotischer, anstrengender. Das wahre Italien begänne, sobald man die Villa verlasse und einfach mal so versuche, in Rom zu leben. Schaffen die wenigsten, versicherten die Italiener, und sei auch nicht wirklich zu empfehlen – kaputte Bausubstanz, kaum Mietwohnungen, wahnwitziger Verkehr. Und ich verstand: Ich war nur ein vom deutschen Staat alimentierter Vogel in einem goldenen Käfig, eine Art verlängerte Touristin, jederzeit durch meine offensichtliche Italienverehrung überführt. Aber seit damals, seit jenem Jahr in Rom, das so schön und schrecklich war und mein Leben in Vor-Rom und Nach-Rom geteilt hat, hat Italien seine Anziehungskraft auf mich noch einmal spürbar erhöht. In immer neuen Anläufen versuche ich seither, es zu finden, das „richtige“.
Ich bin wie Hannibal nach seinem Sieg bei Cannae, bin mit Glück irgendwie eingedrungen, ziehe nun kreuz und quer durchs Land, doch stoße nie auf sein Herz vor. Selbst auf den Liparischen Inseln bin ich gewesen und habe, wie die Punier, hinübergeschaut. Ich war in Cinqueterre und in Kalabrien, an der Amalfi-Küste, in Siena, Pisa, Orvieto, in Sizilien und Sardinien, sogar auf Capri und gerade zum ersten Mal in Neapel sowie zum ersten Mal am Comer See. Aber je näher ich komme, je tiefer ich dringe, desto weiter zieht sich das „richtige“ Italien zurück. Die Politik ist unbegreiflich, das behaupten die Italiener genauso wie die Österreicher über die jeweils ihre. Man kann es nicht lernen, man wird es nie verstehen, genausowenig wie den Humor und die Verfasstheit der Menschen. Unter allem, was man entdeckt, öffnen sich sofort weitere Gründe, Geheimnisse, Zusammenhänge, die zu erforschen und zu begreifen man weder die Kraft noch den Mut haben wird.
Worum geht es mir eigentlich? Was will ich von „Italien“, wann hätte ich es denn so erobert, dass ich zufrieden bin? Vermutlich geht um eine Selbstverständlichkeit, die nur erreichen wird, wer sich wirklich und ernsthaft eine Zeitlang niederlässt. Vermutlich geht es um die Abwesenheit von Scham und Scheu und um das Zurechtstutzen der naiven Italien-Sehnsucht, die so typisch deutsch sein soll (österreichisch scheint sie auch zu sein). Vermutlich geht es um Gewohnheit, Langeweile und um die Indolenz, nicht jeden Morgen beim ersten Blick aus dem Fenster „Wow!“ zu denken, egal, wo man ist, und sei es in einem neapoletanischen Hinterhof. Es geht um Alltag, der doch nirgends besser oder schlechter ist, nur die Temperaturen und das Essen sind es. Italien normal machen, für mich selbst, eine Mittellage finden zwischen den abgeschmackten nordeuropäischen Maximalklischees „das Schönste, was es gibt“ und „ein jahrtausendealtes, unregierbares Chaos“.
An diesen gedanklichen Punkt gelangt (und ja, ich weiß, die italienische Jugend hat im Gegensatz zu mir keine Wahl, sie muss in Scharen das Land verlassen, weil es nicht genügend qualifizierte Jobs gibt) wird alles wieder ganz einfach. Italien ist eine Chimäre, genauso, wie Deutschland eine ist, nur in einem anderen Kostüm. Als Österreicherin in Deutschland habe ich es – im Gegensatz zu Italienern, Türken, Slawen, People of Color – immer beschämend leicht gehabt. Ich öffne den Mund und streife den Sympathiebonus ein. Als Deutschsprachige in Italien ist es schwerer, aber immer noch verdammt leicht, verglichen mit den afrikanischen oder chinesischen Einwanderern. Diese halten bestimmt ihr beinhartes Stück vom richtigen Italien in der Hand, und das ist ein ganz anderes als jenes, von dem ich träume.
Während ich also deutsche Italienklischees zurück bis in die Goethezeit wälze, hat sich die Welt so sehr verändert, dass kaum etwas von diesen Klischees mehr Realitätsbezug hat. Dass man sich auch innerlich ganz anders aufstellen muss. Aber dann läge ja alles wieder nur an mir! Tja, an wem denn sonst? Mein Ringen mit Italien liegt an meinem Unwillen, sehr fremd zu sein. Ein bisschen fremd bin ich ja gern, aber eben auch nicht mehr. Ein Stück von Italien werde ich nur erreichen, wenn es mir gelingt, mich einer größeren Fremdheit auszusetzen. Aber dann richtig. Vedremo.