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Bericht von meiner Lesereise in Bosnien im April 2022
25.04.2022
Je weniger Aufzeichnungen man auf einer Reise gemacht hat, obwohl man sich vorgenommen hat, jeden Abend Aufzeichnungen zu machen, je weniger Fotos man auf einer Reise gemacht hat, obwohl man sich vorgenommen hat, alles zu fotografieren, desto schöner war eine Reise. Denn es blieb keine Zeit, an das danach zu denken. Das Einzige, was mir an Aufzeichnungen geblieben ist, habe ich in meinem Exemplar des Buchs Die erfundene Frau notiert, aus dem ich vorgelesen habe. Dort habe ich Datum, Ort und die Erzählungen, die ich vorgelesen habe, notiert.
Ich kann mich an den Flug nicht mehr erinnern, wohl aber an die Taxifahrt vom Flughafen zum Hotel. Alles lenkt mich sofort ab. Ich sollte mich auf die Architektur konzentrieren, an der die Donaumonarchie, die Zeit des Staats Jugoslawien und die neue Ära der Republik Bosnien-Herzegowina klar sichtbar sind. Ich blicke zu den Bergen, die die Stadt umgeben. Hier fanden 1984 die Olympischen Winterspiele statt. Unauslöschlich ist mir der US-Amerikaner Bill Johnson in Erinnerung geblieben. Er tat damals etwas Verpöntes: Er nahm nicht am Weltcup teil, sondern trainierte monatelang vor der Olympiade auf der Abfahrtsstrecke, um im Alpinski die erste Goldmedaille für die USA zu holen. Und es gelang ihm. Aber er hatte wohl kein glückliches Leben, dieser Bill Johnson. In den Neunzigerjahren ertrank sein Sohn im Alter von einem Jahr, Johnsons Ehe ging in die Brüche, er kämpfte gegen Armut und Alkoholprobleme. Um die Jahrtausendwende wollte der inzwischen Vierzigjährige für sein Comeback trainieren. Dabei stürzte er und verletzte sich so schwer, dass er für den Rest seines Lebens auf Pflege angewiesen war und starb im Jahr 2016 im Alter von fünfundfünfzig Jahren.
Hat diese Geschichte etwas mit Sarajevo zu tun? Ja und nein. Am Sebilj treffe ich Sabine Kernthaller vom Österreichischen Kulturforum. Ich bin schon zu früh dort und drehe einige Runden. Wie gut, dass es ein Zentrum gibt. Ich bin Wiener und eine Stadt, in deren Mitte zum Beispiel ein Dom steht, ist für mich eine ideale Stadt. Meine Orientierung funktioniert dann von diesem Zentrum aus. Ich lerne, vom Hotel zum Zentrum zu gehen und von dort aus andere Stadtteile zu erkunden.
Mit Sabine allerdings gehe ich an diesem Abend auf einen Berg am Stadtrand zum Fastenbrechen. Hunderte, wenn nicht Tausende, sind mit Pizzakartons und Taschen mit Essen unterwegs. Sie warten auf einen Kanonenschuss, der das Ende des Fastens markiert. Zu diesem Zeitpunkt wurden in Österreich noch sehr gewissenhaft Gesichtsmasken getragen. In großen Menschenansammlungen trage ich noch heute Maske. Der Menschenauflauf beim Fastenbrechen, wo praktisch niemand Maske trug, war damals für mich ungewöhnlich bzw. gewöhnungsbedürftig.
Dann gehen wir glaube ich noch essen. Ich war ohnehin schon überwältigt von Eindrücken und hatte noch dazu am Flughafen mit Brigitte Schwens-Harrant, der Chefredakteurin des FURCHE-Feuilletons, telefoniert und zugesagt, den Nachruf auf den überraschend verstorbenen Willi Resetarits zu schreiben. Also auch noch Arbeit im Hotel.
26.04.2022
Am nächsten Tag folgt meine übliche Routine in einer fremden Stadt: Ich suche den nächsten Supermarkt. Mehrmals gehe ich dort hin, um zu lernen, wo die Artikel stehen, die ich brauche. Es beruhigt mich, in Supermärkte zu gehen. Die Stunden, an denen sie nicht geöffnet sind, sind für mich unheilvolle Zeiten. Im Mai 2019 war ich in Schweden, um einen Roman fertigzustellen. Dort bin ich täglich mehrmals in den Supermarkt gegangen. Ich wusste gar nicht mehr, was ich kaufen sollte, und besitze seither eine seltsam geformte Nagelschere, die ich nie benutze und nur aus Verlegenheit gekauft habe.
Dann gehe ich zum Sebilj, um Geld zu wechseln. Ich erhalte die sogenannte Konvertible Mark, von der noch zu reden sein wird. Dann gehe ich weiter und schaue mir als braver Österreicher die Kreuzung an, an der sich das Attentat von 1914 zugetragen haben soll. Ich besuche das Museum. Dann gehe ich aber über die Brücke und finde beim Herumstreunen etwas für mich viel Interessanteres: einen Parkscheinautomaten mit einer Tastatur die alphabetisch geordnet ist. Das Foto ist auch auf meiner Homepage unter dem Text QWERTYUIOP zu sehen.
Dann gehe ich zum Hotel zurück und erstmals in die andere Richtung. An der großen Straße ist ein Markt, durch den ich mich dränge. Hier ist plötzlich der Jugoslawien-Krieg durch Einschusstrichter allgegenwärtig. Es war ein intensiver Eindruck, den ich kurz darauf gleich weggeschoben oder verdrängt habe. Ich bin oft durch Indien gereist und habe dasselbe Gefühl dort beim Anblick bitterer Armut erlebt. Ich weiß nicht, warum ich kein einziges Foto davon gemacht habe.
Es ist das eine Sache, von der ich nicht schreiben kann, ich kann nur um sie herum schreiben. Ich kenne Bosnierinnen und Bosnier in Wien, die diesen Krieg erlebt haben, die vor ihm geflüchtet sind. Für mich sind das nur Informationen, für sie ist das ihr Lebensschicksal, ein markanter Einschnitt, mit dem sie sich ein Leben lang beschäftigen müssen.
Durch einen Park gehe ich, auch hier steil aufwärts, zur Österreichischen Botschaft. Mit der Botschafterin Ulrike Hartmann führe ich ein einstündiges Gespräch über die Politik in Bosnien, die Beziehungen mit Österreich und den Stand der Annäherung Bosniens an die EU. Es ist nicht selbstverständlich, dass sich die Botschafterin Zeit nimmt.
Abends findet die erste Lesung statt – und zwar an der Universität in Sarajevo. Meine Aufzeichnungen sagen, dass ich die Geschichten Ingrid und Frau Ilse vorgelesen habe. Ich kann mich noch an eine lebhafte Diskussion mit den Studierenden erinnern, in der es um die Bedeutung eigener Erlebnisse für das Schreiben geht. Ich sagte so etwas wie: Sehen Sie sich Thomas Mann an; seine Tagebücher sind ihm unter der Hand zum Beleg der Ereignislosigkeit seines Leben geraten. Später beim Essen – es ist gar nicht so einfach essen zu gehen, wir finden erst beim dritten Versuch ein Restaurant, das die der Tradition entsprechenden Fastenmenüs anbietet – sagt der Lektor zu mir: So kann auch nur ein Österreicher über Thomas Mann sprechen.
27.04.2022
An diesem Tag mache ich meine einzige Zugfahrt auf der Reise. Zugfahrten sind eigentlich meine Lieblingsaktivität in fremden Ländern. Plötzlich ist das Handlungsvakuum, in dem sich der Tourist ohnehin den ganzen Tag befindet, natürlich motiviert. Das blöde Schauen ist nicht auffällig.
Am Bahnhof trinke ich in einem Café einen Kaffee. Auch dieser Satz zeigt den unendlichen Einfallsreichtum des Reisenden. Ich versuche, mich mit dem an der Anzeigetafel stehenden WLAN zu verbinden. Das misslingt. Ich bin auf ein recht kleines Downloadvolumen angewiesen, dass ich Paket für Paket kaufen muss.
Was soll ich zu Mostar sagen. Es ist das perfekte kleine Städtchen. Das Hotel war so angenehm und luxuriös, dass ich die ganze Zeit im Zimmer bleiben und schreiben hätte können. Aber das ging nicht. Natürlich musste ich diese Brücke sehen, auch wenn diese Brücke ja nicht mehr diese Brücke ist, die Läden und Restaurants rundherum Touristenfallen sind und die Međugorje-Busse riesige Gruppen meist älterer Menschen ausspucken. Dennoch gelingt mir ein Schnappschuss in diesem Wonderland:
Auf dem Rückweg zum Hotel gehe ich absichtlich an der großen zweispurigen Straße entlang, um wenigstens ein paar normale Geschäfte zu sehen. In einem von ihnen kaufe ich eine Waschseife namens TreStelle, die ich bis im Herbst auf Reisen immer mithatte und wirklich aufgebraucht habe. Sie hat, glaube ich, knapp einen Euro gekostet und war eine meiner besten Investitionen.
Nachmittags gehe ich zu Fuß zum Campus. Der Weg führt über eine schöne Allee. Es ist eine schöne Uni in Mostar. Danach saß ich mit Lektor Uwe Zehetner in einem kleinen Buffet. Also natürlich vor diesem Buffet. Ich habe es verabsäumt, einen Wetterbericht beizufügen. Das Wetter war immer herrlich, besonders in Mostar war es sonnig, der ewig blaue Himmel wunderbar.
Es waren noch zwei Lehrende bei uns und sie erklärten mir das demografische Problem Bosniens. Im Ausland leben fast so viele Bosnierinnen und Bosnier wie in Bosnien. Und tatsächlich, fragt man die Studierenden, so sagen bestimmt zwei Drittel, wenn nicht drei Viertel, dass sie nach dem Studium ins Ausland gehen wollen.
28.04.2022
Ein Chauffeur holt mich am nächsten Tag ab und bringt mich nach Banja Luka. Nun brauche ich mein Downloadvolumen, denn ich versuche mit meinen Resten von burgenländischem Kroatisch eine Unterhaltung mit diesem Mann zu führen. Dabei bin ich auf Google Translate angewiesen.
Wir fahren an der historischen Stadt Jajce vorbei, die einmal die Hauptstadt Bosniens war. Es ist jammerschade, dass wir keine Zeit zur Besichtigung haben. Auf der Fahrt mache ich sehr viele Fotos. Darauf sieht man die Straße, Bäume, einen wolkenbedeckten Himmel und manchmal ein Verkehrsschild.
An diesem Tag denke ich doch öfter an den Princip, den Attentäter von Sarajevo, der mich allerdings nie so interessiert hat wie Czolgosz, der Mann, der 1901 den amerikanischen Präsidenten William McKinley erschossen (oder eher auf ihn geschossen) hat. Diesen Text habe ich im Hotel in Banja Luka geschrieben.
Das Hotel hatte einen neu gebauten Teil, in dem mein Zimmer lag. Die Korridore und Zimmer waren noch in Plastikfolie eingewickelt und ich fühlte mich dort auch wie in einem Übergangsstadium. Auf dem Marsch durch die Stadt suchte ich nach einem Bier, fand aber eine Kirche und stelle heute zu meinem Entsetzen fest, dass ich damals sogar Krawatte getragen habe.
An diesem Tag kam auch Sabine Kernthaller aus Sarajevo nach Banja Luka, was wirklich angenehm war. Nie habe ich jemand in einem Kulturforum erlebt, der sich enthusiastischer, ernsthafter und rührender um die Auslandskultur gekümmert hat als Sabine. An die Lesung kann ich mich nicht mehr erinnern, wohl aber an das Essen danach, das in einem Restaurant in einer Burg stattfand. Die Küche war vom Gastraum durch eine Glasplatte getrennt, sodass man den Köchen zuschauen konnte. Ich hatte mir fest vorgenommen, nach drei Tagen Ćevapčići an diesem Tag keine Ćevapčići zu essen. Man sagte mir aber, dass dieses Restaurant eines der besten Grillrestaurants des Landes sei. Tatsächlich erinnerte es mich an das Bukhara, ein Restaurant im Maurya Hotel in Neu Delhi, das wirklich eines der besten indischen Restaurants der Welt ist und wo man ebenfalls durch eine Glasplatte sieht, die Spieße und Brote in den Tandoor geschoben werden. Also gab es auch an diesem Tag gegrilltes Fleisch und es war wirklich köstlich.
29.04.2022
Am nächsten Tag fuhr ich mit Sabine nach Tuzla. Es war ein sehr ereignisreicher Tag. Wir besuchten einen Radiosender, hatten uns aber in der Zeit verschätzt und mussten bald wieder zur Lesung aufbrechen. Hier habe ich mein letztes Foto auf der Reise gemacht.
Ich weiß noch, dass die Lesung in Tuzla die beste war oder mir am besten vorkam, weil die Studierenden – der größte Teil davon waren Studentinnen – wirklich lang und ausführlich diskutieren wollten. Ich las also nur eine Geschichte vor und wir redeten lange. Das war eigentlich der würdige Abschluss der Lesereise.
Wir fuhren nach Sarajevo zurück und hörten im Auto das Album Abbey Road von den Beatles. Ich spielte es von meinem Handy ab und dachte, ich hätte es downgeloadet. Tatsächlich aber empfing ich es via Streaming und brauchte so mein Datenvolumen auf.
Wir kommen spät in Sarajevo an und gehen noch essen. Von all dem habe ich kein einziges Foto. Woran ich mich aber am lebhaftesten erinnern kann, ist ein Lokal, das mir Sabine noch gezeigt hat. Es ist so etwas wie eine Disco. Drinnen wird geraucht. Wir setzten und plötzlich bin ich völlig in die Neunzigerjahre zurückversetzt. Eine Zeitkapsel. Dieses Lokal muss man buchen, wenn man einen Film über die 1990s drehen will.
Ich resümiere an diesem Tag schon, wie immer vor Abreisen, und ich werfe mir vor, dass ich mich nicht mit Bosnien beschäftigt habe: Bill Johnson, Christopher Latham Sholes, Willi Resetarits und William McKinley haben sich in mein Gehirn gepflanzt. Ich habe nichts gesehen und nichts verstanden. Ich muss wiederkommen.
Die Bosnienreise war nur dazu da, einen Plan für eine Bosnienreise zu machen. Ob die Studierenden beim Lesen oder Zuhören oder Diskutieren etwas Brauchbares erfahren haben, weiß ich nicht. Jedenfalls aber war das eine ganz andere Lesereise, als die Lesungen in Kulturforen normalerweise sind, wo man es mit einem Publikum zu tun hat, das hauptsächlich Deutsch als Muttersprache spricht. Das war schon sehr nett und anstrengend und die Tage waren überwältigend. Schade, dass ich nichts aufgeschrieben habe und gut, dass ich nichts aufgeschrieben habe. Ich habe gelebt. Das muss reichen.
Ich fiel in mein Bett im Hotel. In meinem Hotelzimmer hing dieses Bild:
30.04.2022
Und ich bin doch ein gewöhnlicher Tourist und gebe mein restliches Geld in den Geschäften rund um den Sebilj aus. Ich kaufe Mitbringsel und befriedige meinen wahnhaften Kaufzwang für Federpennale. In diesem schönen Ding befinden sich die kleinen Stanleymesser, Bleistiftspitzer, Schraubenzieher, ein Reiseschuhlöffel und die kleine Nagelschere, die ich in Strömstad, in Schweden, gekauft habe.
Auf dem Rückflug habe ich deswegen viele Fotos gemacht, weil das Flugzeug über die Wiener Innenstadt nach Schwechat flog. So konnte ich diesen Schnappschuss machen. In der Mitte ist der Augarten im zweiten Wiener Gemeindebezirk zu sehen, in seiner linken Ecke der Flakturm. Auf diesem Foto kann man das Haus sehen, in dem ich wohne.
Trotzdem bleiben mir ein paar Scheine von den Konvertiblen Mark. In der darauffolgenden Woche laufe ich zu einem Geldwechsel-Stand in der Wiener Innenstadt. Der Mann sagt zu mir: Diesen Geld können Sie nirgendwo eintauschen.
Irgendwie ist das nicht nett, Bosnien gegenüber. Und irgendwie sind wir Bosnien gegenüber nicht nett gewesen, schon gar nicht im und nach dem Jugoslawien-Krieg. Das ist eine Schande. Und wir dürfen uns nicht wundern, dass die Bosnier sich im Stillen grämen und uns nicht lieben können. Ich würde uns auch nicht lieben.
Später gebe ich das Geld einer Fernsehredakteurin, die mir aufgeregt erzählt, dass sie bald nach Bosnien reist. Unlängst schrieb sie mir eine SMS: Fahre am Freitag nach Bosnien und werde dein Geld ausgeben.