Die Blume Deutsch
Lese Arno Schmidt. Sehe auf: Unvermittelt. Fünf Minuten nach Principe Pio: Die spanische Landschaft. Gelbes Kraut. Schwarzer Senf? Vielleicht. Hat man mich dahin geschickt, wo der Senf wächst. Ich musste den halbschnellen Zug von Madrid aus nehmen, denn die schnellen sind, seit die Pendler gratis fahren, auf Monate im Voraus ausgebucht.
Schreibe an einer Rezension über einen Klassiker der chinesischen Literatur. Das Internet gibt auf, ich sehe hinaus: Spanische Hügel. Die Abendsonne neigt sich ihnen zu. Rotgräuliche Steine, niedrige Gebüsche. Ein Tunnel entreißt mir das Bild. Kurz vor jeder Station tönt es aus den Lautsprechern, dass man vorsichtig sein solle beim Überqueren der Gleise. »A train can be hidden behind another one«. Die regelmäßige Wiederholung dieses Satzes erhebt ihn zur philosophischen Beschwörung, einer magischen Beteuerung. Alles badet im gelben Licht verklärter Filmerinnerungen. Liegt dort Schnee auf den entfernten Bergen?
Die Landschaft schafft dann das Kunststück zwei Stunden lang genau gleich auszusehen. Ich denke über Rain und Spain und Plain nach. Plan ist hier nichts. Hügel über allem. Die kleinen Orte und wenigen Bauten dagegen relativ unansehnlich. Ich würde mich gerne im Urlaub wähnen. Es ist beinahe acht Uhr abends, ich bin schon an die zehn Stunden unterwegs. Noch etwas mehr als eine bis Ankunft.
Ein breiter Fluss durchzieht die Hügel. Endlich ein schönes, aus Steinen gemauertes Haus. Plötzlich ist jeder Baum ein Olivenbaum, in Wahrheit oder Vorstellung.
Dann auf einmal grüne Felder, Windräder am Horizont. Meine Seele will winken. Hallo, Heimat.
Ich setze die Kopfhörer auf.
Salamanca. Ich werde von meiner Kontaktperson von der Universität herzlich empfangen. Auf der Autofahrt vom Bahnhof weg erinnert mich ein einsames gotisches Gebäude zwischen Glasfassaden kurz an Chicago. Das ist das Problem, wenn man schon viel gereist ist, fast alles erinnert einen, nichts steht für sich, gleichzeitig trennen sich die Erinnerungen von den einzelnen Städten. Was? Das? Das kann überall und nirgendwo passiert sein. Zeit löst sich auf.
Die Wahl gleich im Hotelzimmer zu verschwinden oder noch etwas Essen zu gehen: Ich lehne das für österreichische Verhältnisse reichlich späte, für spanische noch ziemlich zur richtigen Zeit kommende Abendessen dankend ab und versinke in der ehemaligen Klosterzelle in das rostige Email der Badewanne, in das der Wasserhahn Wärme in einem langen Strahl spuckt.
Nächster Morgen. Über den hohen Klostermauern wölbt sich die lichtblaue Kuppel der Himmelskathedrale. Eine Taube ersetzt einen der vom Dach gefallenen Babyengel. Groß ist sie, die Natur, sagt mir stumm der alte Stein. Klein sind die Menschen, die sich im Frühstücksraum Grüne Pflaumen-Marmelade auf ihr getoastetes Weißbrot schmieren. Der Tee schmeckt nach dem Staub von Jahrhunderten, der Pfirsichsaft vielleicht nach der kastilischen Sonne, dezent gewässert. Vor einer Woche hätte es noch geschneit, hat man mir gesagt.
Ein neues freundliches Gesicht führt mich zur Universität. Die Leute hier tragen ihre Winterjacken, ich schwitze in meinen zwei Schichten mit dem kurzärmeligen Kleid. Ein Storch segelt über unsere Köpfe hinweg und lässt sich in seinem Nest auf der Philologischen Fakultät nieder. Geistige Kinder en Masse. Schon am Abend zuvor haben Schwärme kreischender Vögel zu Hunderten und Tausenden die Türme umflogen, die Choreographie dieses Tanzes in den Lüften nur ihnen bekannt. Die Tauben hingegen üben sich in ungewohnt vornehmer Zurückhaltung. Umso herzlicher sind die Menschen. Mir wird warm unter der spanischen Sonne. Es ist noch Zeit, sagt man mir, und dass alles gut gehen wird. Trinken wir einen Tee.
Das Café der Fakultät befindet sich in den ehemaligen Ställen: Im 16. Jahrhundert kamen die Herren Studierenden noch am Pferd angeritten. Ich wähle den Minztee, rühre Zucker in mein heißes Wasser, bade die Minze darin, bis sie weich und müde wird, wie ich am Vorabend. Dann ein paar Eiswürfel dazu. Wie war die Reise, werde ich wieder und wieder gefragt. Lang, gebe ich als Antwort, ziemlich lang. Wie lange wirst du bleiben? Nicht viel länger.
Salamanca ist auf Sandstein gebaut, auf Rindfleisch und dem Wert des Wissens: Heimat der ältesten Universität Spaniens. Es heißt, Bücher und Wein mögen es trocken und weder zu heiß oder zu kalt. Hier herrscht das richtige Klima.
Die neue Kathedrale hat sich die alte einverleibt, wie ein Zwilling den anderen im Mutterleib. Der Turm spitzt noch über die Mauern. Bevor es die Universität gab, wurden die Theologie-Studenten vor dem Examen hier eingeschlossen. Es gab zwei Ausgänge: Einen für die erfolgreichen und einen für die anderen. Wir besichtigen die historische Bibliothek der Universität. Ob meines Interesses vergesse ich das Fotografieren. Diese Bilder bleiben alleine die meinen.
Über den Río Tormes führt eine Brücke, die haben schon die Römer gebaut. Diese Brücke entlang ist die Stadt dorthin gewandert, wo sie heute steht. Ich könnte über mich schreiben, über die Lesungen, die Diskussionen. Ich will lieber über Salamanca schreiben, über die Menschen, die die Veranstaltungen organisieren, ihre Zugewandtheit: Silvia, Miriam, Patricia und wie sie alle heißen die Frauen. Über die Studenten und Studentinnen mit ihren ehrlich aufgeregten Augen. Auf dem Podium haben dann wieder die älteren Männer das Wort. Englisch ist nichts mehr, womit man sich abheben kann, sagt einer von ihnen, mit Deutsch, dieser Sprache einer Minderheit, hingegen schon. Kurz muss ich an die Sprachstudien denken, die bei uns als eher exzentrisch gelten. Deutsch, eine seltene Blume. Noch blüht hier diese Orchidee. Aber es ist auch gut, dass sie Luftwurzeln schlägt. Wir gratulieren den Gewinner*innen des Übersetzungswettbewerbs.
Diesmal nehme ich die Einladung zu Getränken und Abendessen gerne an. Die Stadt des Schinkens legt für mich Seitan auf ein Brot. Der Radler schmeckt in Salamanca süßer als zu Hause. Das Nachlassen der Anspannung nach den Veranstaltungen wirkt überall auf der Welt gleich. Wir lachen und bestätigen uns gegenseitig, dass alles gut gegangen ist.
Auf dem Heimweg steht vor mir an der Sicherheitskontrolle am Flughafen Madrid eine Frau mit vielen Taschen. Sie wühlt darin herum und zieht wie Schneewittchens Stiefmutter einen Apfel heraus, den will sie zurücklassen. »Ihr Apfel«, sage ich. Sie hört nicht. »Ihr Apfel?« sage ich lauter. Sie winkt ab. Ich erkläre: »You can take it, take it on the plane.« Sie wirkt erstaunt. »Sure?«, »Sure.«. Lächelnd steckt sie die Frucht wieder ein. Nach dem Bodyscan schließe ich erneut zu ihr auf. Mein Blick fällt auf ihren durchleuchteten Koffer. Ich sehe die Umrisse einer Nagelschere, einer Nagelfeile, eines Gewirrs aus Bürsten und Kabel darin. Die Damen von der Sicherheitsüberprüfung halten eben fragend ein Sturmfeuerzeug in die Höhe, und etwas, das aussieht wie ein Minitatur-Bunsenbrenner. Hot Pink. Den Apfel sehe ich nicht mehr. Vielleicht, denke ich mir da, vielleicht machen wir uns alle Sorgen um die grundsätzlich falschen Sachen.
Die Fakultät für Übersetzen und Dolmetschen der Universität Salamanca organisierte in Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Kulturforum Madrid die vierte Ausgabe des Übersetzungswettbewerbs Jugend übersetzt zur Förderung der Sichtbarkeit von Deutsch als Fremdsprache. Der zu übersetzende Text war ein Auszug aus dem Jugendroman »Harte Schale, Weichtierkern« der österreichischen Autorin Cornelia Travnicek. Die Autorin reiste anlässlich der Preisverleihung am 5. April nach Salamanca, wo sie zwei Lesungen abhielt: um 11:00 im Germanistikinstitut und um 17.00 Uhr in der Aula der Fakultät für Übersetzen und Dolmetschen (im Rahmen der Preisverleihung).