Was der Fluss auf seine Fahne schreibt
Nach drei Stunden machen wir einen Zwischenhalt in der bulgarischen Stadt Ruse und steigen aus dem Auto, das uns in Bukarest abgeholt hat. Wir sind eine zur Feier des 30ig- jährigen Bestehens der Österreich-Bibliothek in Veliko Tarnovo zusammengewürfelte Gruppe, mit nicht geringer Augenzahl. Auch in Ruse wurde eine Österreich-Bibliothek aufgebaut – und der Schriftsteller Elias Canetti geboren, sodass wir wenig später vor einer Büste ihm zu Ehren stehen. Beim Blick darauf runzelt manch einer die Stirn, ob das tatsächlich Canetti sei. Aber vielleicht sitzt er ja in der Funky Buddha Bar dahinter.
Kurz darauf erreichen wir das ehemalige Geschäftshaus der Familie Canetti, das 1898 erbaut wurde. Monument of Culture ist auf einer Tafel zu lesen. Die Eingangstür ist von einem Graffiti getaggt. Wir betreten einen zweistöckigen, hallenartigen Raum mit freigelegten Metallstreben und unverputzten Wänden, der als Veranstaltungsort dient, erfüllt vom Geist der Unangepasstheit, den man oft vergeblich sucht. Ruses Subkultur treffe sich hier, wird uns stolz erzählt. Eine Treppe führt hinunter in den Keller und, nachdem ein schwerer Filzvorhang lächelnd auf die Seite geschoben worden ist, erscheint eine Halfpipe.
Grün-Pink-Schwarz
Auf dem Weg zurück ins Erdgeschoss erfahren wir von den jahrzehntelangen Streitigkeiten, welche die Sanierung des Hauses lahmlegen. Durch eine Hintertür betreten wir einen mit Efeu überwucherten Garten. Ich stehe neben einem Baum, der damals vielleicht so groß wie der kleine Canetti war, der als Sechsjähriger 1911 Bulgarien Richtung England verlassen hatte. An der Hauswand prangt ein Graffiti: unverkennbar er. Seine Haare sind grün – und sein Schnurrbart ebenfalls. Sein Kopf ist von ein paar pinken Klecksen umrahmt, die für seine Hellsichtigkeit stehen, denke ich, erinnere mich gleichzeitig an Beschreibungen Canettis als mitunter unangenehmen Zeitgenossen. Seine Liebesbeziehungen scheinen zudem von Eroberungswillen bei rasender Eifersucht gekennzeichnet. Ich blicke auf den fest gebundenen Krawattenknoten in Schwarz. Während wir wieder vor das Geschäftshaus treten, denke ich über die Widersprüchlichkeit einer Person nach; auch der eigenen. Auf dem Weg zurück zur Österreich-Bibliothek kommen wir an einem Hinweisschild auf eine ehemalige Synagoge vorbei. Elias Canetti stammte mütterlicher- und väterlicherseits von Juden ab, die aus Spanien vertrieben worden waren und sich im Osmanischen Reich niedergelassen hatten. In Ruse gab es im 19. Jahrhundert eine prosperierende jüdische Gemeinde mit zwei Synagogen. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts existierte in einem türkischen Privathaus ein Gebetsraum für Juden. Die Idee eines gemeinsamen Hauses als Wegweiser in die Zukunft: in jeden Raum zieht eine andere Religion ein; und im Garten, bei den Beeten, diejenigen, die aufs Beten verzichten.
Nachdem Ruses zwei Synagogen 1948 vom Staat übernommen und unkenntlich gemacht worden waren, wurde eine davon in den 90iger Jahren der jüdischen Gemeinde zurückgegeben, während die andere an die amerikanische Church of God of Prophecy verkauft wurde. Auf jewishbalkans.eu wird die dort angebrachte Tafel erwähnt, auf der von einem »heroischen Akt« gesprochen wird, eine Synagoge in einen christlichen Tempel umgewandelt zu haben. Vom gemeinsamen Haus könnten wir weiter nicht weg sein.
Weiß-Grün-Rot
Als wir am Hauptplatz von Ruse stehen – früher wegen des Einflusses österreichischer Architekten auch »Klein-Wien« genannt – , erhebt sich in der Mitte ein Denkmal mit zur Abwechslung einer Frau an der Spitze, die in ihrer linken Hand ein Schwert hält. Natürlich handelt es sich um die Befreiung Bulgariens von der 500 Jahre währenden Osmanischen Herrschaft. Jemand witzelt, dass fast jedes Monument in Bulgarien daran erinnert.
Schließlich zurück im Auto auf dem Weg nach Veliko Tarnovo denke ich über die verschiedenen Erzählungen von Nationalstaaten nach, ihre Ablehnungsmechanismen und Anziehungskraft. Währenddessen durchqueren wir die leuchtende Landschaft Bulgariens. Beim Einfahren in die Stadt drehen sich sofort unsere Köpfe zu den am steilen Hang gebauten Häusern mit ihren Holzbalkonen. Unterhalb mäandert die Jantra vorbei, umwuchert vom Grün der Talschlucht. Schmale, gepflasterte Gassen führen in die Altstadt. Von dem Holzbalkon meines Hotelzimmers blicke ich direkt auf einen schwarzen Obelisken, der auf dem Hügel gegenüber in den Himmel ragt.
Am nächsten Morgen wird das Denkmal für die Zarenfamilie Assen – eine sich gegen den byzantinischen Kaiser auflehnende bulgarische Herrschaftsfamilie des Mittelalters – vom Frühnebel umhüllt. Er lichtet sich, als wir zu Fuß Richtung Universität aufbrechen. Beim Überqueren der modernen Stambolov-Brücke über den Fluss spiegeln sich die Holzhäuser tief unten im Wasser. Vom Interhotel links hinter uns – Anfang der 80iger Jahre im bemerkenswerten Architekturstil des Brutalismus erbaut – müsste man einen schönen Blick haben. Es wird zur Terrasse gezeigt: Ein Dinosaurier steht dort, erinnert uns ans Aussterben.
Die Universität Kyrill und Method liegt auf dem Nachbarhügel, auf welchem sich einmal im alles umgebenden Grün ein Kloster mit Gelehrten- und Malschule befand. Wir betreten das Gebäude und nehmen in schweren Ledersesseln im Konferenzsaal Platz, an dessen Wände Bilder von Ikonen hängen. Bevor die Feierlichkeit beginnt, werden Fotos der Österreich-Bibliothek aus den letzten 30 Jahren auf eine Leinwand projiziert. Vor unseren Augen vergeht die Zeit, und wir werden selbst dabei fotografiert. Dass sogar dasEmpfinden ihres Vergehens in das jeweilige Umfeld eingebettet ist, beginne ich auf die ausgiebigen Begrüßungsworte hin zu grübeln – nachdem ich mich zuerst ertappt hatte, »endlos« gedacht zu haben.
Wir finden uns anschließend für eine erste Pause in der Bibliothek ein. Die klugen Gastgeberinnen sind ausnehmend freundlich. Fast ausschließlich Frauen sind hier am Werk, scheint es mir. Das Buffet wird eröffnet. In Küchlein und Brötchen stecken österreichische Fähnchen.
Ich ziehe gerade eines heraus, als ich eine Nachricht einer Freundin erhalte. Die Feindseligkeit wächst, schreibt sie, fügt an, wieder eine Meldung – die Nachricht könnte aus Österreich stammen, Ilinca arbeitet allerdings für eine NGO in Rumänien. Ich antworte etwas, schicke schließlich ein Bild des rot-weiß-roten Fähnleins: Bin in Bulgarien, teile ich die Nähe mit. Bulgarien! erwidert sie mit einem Ausrufzeichen der Begeisterung, setzt in Klammer leider auch ähnliche Vorfälle dort.
Als ich am nächsten Morgen auf der Rückbank des Autos Platz nehme und die pittoresken Häuser langsam hinter mir verschwinden, hallt das die Feindseligkeit wächst und auch ähnliche Vorfälle nach.
Rot-Weiß-Rot
Ich schaue bedrückt aus dem Fenster der Welt. Canetti kommt mir erneut in den Sinn, der aus Wien, in dem er seit 1924 durchgehend gelebt hatte, nach dem Anschluss Österreichs 1938 fliehen musste und in London Unterschlupf fand. Bulgarien wurde ab 1941 Mitglied des Dreimächtepaktes zwischen Hitlerdeutschland, Italien und Japan. Dennoch hatte es breiten Widerstand gegen das Ausliefern von jüdischen Mitbürgern gegeben, sodass sich die bulgarische Bevölkerung gemeinsam mit liberalen Politikern und Kirchenvertretern damals aktiv den Dekreten widersetzte, die von Deutschland ausgegangen waren. Der Willfährigkeit des Staatsoberhauptes wie konservativer Politiker fielen zwar noch immer 12.000 Juden und Jüdinnen aus den bulgarisch besetzten Gebieten und 8.000 aus den eigenen zum Opfer, aber dank des Widerstandes der Zivilbevölkerung konnten rund 50.000 anderen das Leben gerettet werden.
Ich werde hingegen am Abend in einem Land ankommen, in dem sich der Antisemitismus schon in den ersten Stunden nach dem Anschluss seine zerstörerische Bahn gebrochen hatte – als hätte man es kaum erwarten können. Brutalsten Übergriffen, Demütigungen und Plünderungen waren die jüdischen Mitmenschen ausgeliefert, oftmals aus der direkten Nachbarschaft. Da sollte man das rot–weiß–rote Fähnchen hineinstecken, denke ich, und: Wie es Ausgrenzung – ganz gleich welche – dort überhaupt noch geben kann und warum sieringsherum auch stattfindet. Wir nähern uns unterdessen wieder Ruse an, das von der gegenüberliegenden rumänischen Stadt Giurgiu nur durch die Donau getrennt ist.
Plakate zur EU-Wahl ziehen wie sie vorbei. »Rustschuk, an der unteren Donau, wo ich zur Welt kam«, schrieb einst Canetti, »war eine wunderbare Stadt für ein Kind, und wenn ich sage, dass sie in Bulgarien liegt, gebe ich eine unzulängliche Vorstellung von ihr, denn es lebten dort Menschen der verschiedensten Herkunft, an einem Tag konnte man sieben oder acht Sprachen hören.« MitBlick auf den breiten Fluss denke ich: Alle gehören doch zum selben, verdammten Strom. Stattdessen aber ringsum ein Unken, das nur in eines mündet: uferloses Hassen.
Wir reihen uns in die Schlange vor der rumänischen Grenze ein. Eine junge Beamtin fischt Fahrzeuge heraus, um ihre Kofferräume zu kontrollieren. Auch unser Auto wird herausgewinkt und sie lässt den Fahrer mit einem stummen Handzeichen die Transportbox am Autodach öffnen: Kein Mensch in ihr, zusammengerollt wie eine Flagge.
Anna-Elisabeth Mayer war von 24. bis 26. April 2024 anlässlich der 30-Jahr-Feier der Österreich-Bibliothek Veliko Tarnovo ebenda zu Gast.