Place de Paris
Ich tippe die Nachricht an Martin: „Sag Levi, dass er mir fehlt! Wenn du mit ihm gehst, lass ihn ruhig von der Leine“, während mein Rollkoffer über die schmale Straße Richtung Busstation rattert. Auf der Fahrt zum Bahnhof zähle ich Barbershops. Vier sind es auf der Strecke. Nie werde ich einen betreten. Dasselbe gilt im Übrigen auch für Eroscenter, seit dem Pariser Drama vor demnächst dreißig Jahren.
Das Handy vibriert in der Jacke. Martin antwortet: „Mach ich!“
Der Zug fährt von Bahnsteig drei ab. Was damals in Paris war? Dicht an dicht mit dem Freund in der Einzelkabine auf einem muffigen Plüschstuhl, die Dame hinter der Scheibe, sich räkelnd, die Schenkel spreizend. Im Anschluss bat sie uns, auf einen Drink zu bleiben, sie habe noch etwas Zeit, wir täten ihr einen Gefallen, ihr Gesellschaft zu leisten. Sie kippte drei Gläser auf ex, während der Freund und ich gelangweilt an einem schlürften und ihr Geschwätz ertrugen. Als wir aufbrechen wollten, für die Show bezahlt hatten wir im Voraus, bedankte sie sich freundlich und winkte nach der Bedienung. Auf dem Kassenbon stand eine Flasche Champagner, ungefähr 800 Schilling waren es umgerechnet. Der Freund wurde kreidebleich. Wir sahen uns an und auf drei rannten wir Richtung Ausgang.
In Rosenheim steige ich um.
Jedes Mal freu ich mich kindisch auf die Nachtzugfahrt im Mehrbettliegewagen: Man weiß nicht, mit wem man sich bettet, über oder unter wem man erwacht. Ich brauche dann oft Süßes wegen dem Unterzucker und dem niederen Blutdruck. Luxemburg, sagte mir jemand, sei unter anderem berühmt für Torten und Schokoladen.
Im Abteil stelle ich fest, das oberste Bett ist so hoch, dass man knapp unter dem Dach liegt. Vergeblich suche ich nach einem Sicherheitsgurt, der mich im Falle des Falles vor einem Sturz bewahrte. Das unterste Bett ist besetzt. Wer oder was da liegt, ist nicht zu erkennen unter der wollenen Decke.
Ich muss in den Schlaf getunkt sein, schrecke aus einem Halbtraum: Jemand hat mir brutal ins Gesicht gegriffen. Sorry, I didn´t see You. I thought there were cushions up there. Die offenbar Zugestiegene blickt mich entgeistert an. Mutter hatte mir Pfefferspray mitgegeben. Die Schrift auf der kleinen Dose beinahe unerkennbar. „Gegen Angriff von Tieren“, konnte ich entziffern. „Wirkt auch gegen Menschen.“ Befand sich das Spray im Koffer oder in meiner Tasche? Ich wüsste nicht einmal, wie man es benützte, ohne sich selbst zu verletzen.
Halb fünf. Ausstieg in Koblenz.
Auf der Abfahrtsanzeige in der Bahnhofshalle lese ich „Wasserbillig“. Eine Taube sitzt auf einem Verlängerungskabel, das man unbedacht über den Spikes fixiert hat, die ihresgleichen doch eigentlich hindern sollten, es sich gemütlich zu machen. Die „Wiener Feinbäckerei“ bietet „Frühstückshörnchen“. Ü-Ü-Ö klingt auch schön.
Der Anschlusszug ist pünktlich. Nach Luxemburg sind es von hier aus nur noch ein, zwei Stunden. Das Passieren der Grenze bemerke ich hinterher, als in Wasserbillig irgendwo „Sortie“ steht. Und apropos Sortie: Beim Ausgang des Puffs in Paris rannten der Freund und ich dem Feind direkt in die Arme. Im Nu waren wir umkreist von spärlich bekleideten Damen. Als wir uns weigerten, die Portemonnaies zu zücken – sie hätten uns, brachten wir vor, darüber aufklären müssen, dass der Champagner der Dame, der wir mit unserem Dableiben, wie sie selber sagte, einen Gefallen taten, auf unsere Rechnung ginge –, fingen sie an zu kreischen und an unseren Taschen zu zupfen.
Ich lache bei dem Gedanken, schaue zum Fenster hinaus, sehe riesige Herden weißer und brauner Kühe und immer wieder Schafe. Lieblich lauterer Landstrich, nichts von Protzertum oder Pedanterie, mehr eine Aufgeräumtheit: Laubwälder, sanfthügelig, satt, die Misteln in den Wipfeln groß wie Wagenräder. Hähne auf Kirchturmspitzen. Die Bauernhöfe sehen aus wie in den Wimmelbüchern, die die Kinder liebten, als sie noch sehr klein waren. Wie macht dieses Tier, höre ich mich fragen. Muuuuh!, dievergnügte Antwort. Und dieses hier? – Iaaah! Iaaah! Eine Sehnsucht beschleicht mich, der Wunsch, den Großgewordenen etwas mitzubringen. Äusstiech in Fahrtrischtungg rechts, krächzt eine Lautsprecherstimme. Luxemburger Vorstadt. Elegante Villen zwischen Festungsanlagen.
Ankunft um halb neun.
Der Mann am Hotelempfang fragt, warum ich so zeitig da sei. Check-In ist erst um zwei, sagt er und tippt auf die Uhr. Zwölf, berichtige ich. Das koste, lässt er wissen, fünfzehn Euro extra. Meinetwegen, sag ich. Dann komm ich später wieder. Ich lasse den Rollkoffer in den Frühstücksraum bringen, trete hinaus ins Freie, übernächtig, ziellos. „Neigbours watch. No drug zone“, steht über einer Einfahrt. Ich nehme die nächstbeste Tramway, um mich aufzuwärmen. Zu jeder Stationsansage erklingen Klaviermelodien, Streicher und Flötenklänge. Ich lese „Paräisser Plaz – Place de Paris“ an einer Haltestelle. Da fallen sie mir wieder ein, die leichtbekleideten Damen, die den Freund und mich am Ausgang böse umkreisten und uns alles nahmen, was wir bei uns trugen, das ganze Reisegeld, immerhin 400 Schilling, und all unsere Hoffnungen auf ein Wochenende, das uns armen Studenten ein wenig Abwechslung böte. Die verbliebenen vierunddreißig Stunden verbrachten wir unbemittelt und streitend auf dem Zimmer der billigen Stadtrandabsteige, da sich die Reisegesellschaft, der wir angehörten, im Disneyland vergnügte oder bei einer Seine-Fahrt, ehe sich unser Bus in aller Herrgottsfrühe endlich Richtung Wien in Bewegung setzte.
In der Fischabteilung des Cloche d´Or-Einkaufcenters wandle ich stundenlang zwischen lebenden Krebsen, Muscheln und Krustentieren – Tourteau vivant, neun Euro –, und später im zweiten Stock zwischen den Vitrinen mit üppig verzierten Torten, Eclairs und Beerenkuchen: Biscuit aux noisettes, Crème dármandes, Tarte framboisine …
Endlich ist es Mittag. Ich beziehe das Zimmer, stelle mich unter die Dusche. Das Warmwasser funktioniert nicht. Der Portier knurrt mich an: „Sie hätten anrufen müssen, ich hätte den Boy geschickt.“ Er winkt sich einen herbei, einen junghübschen Kerl, der zuvorkommend nickt. Am Nachmittag ein Streifzug durch die hügelige Altstadt. Luxemburg riecht nach Kohldampf, Zimt und frischen Äpfeln. Ich habe genug vom Alleinsein. Ein Glück, dass mich jemand von der Botschaft am nächsten Morgen holen kommt!
Bis zum Café de la Place sind es kaum zehn Minuten. Ein lichtdurchflutetes Beisl. Zwei Frauen von der Botschaft schmücken die Tische mit pflückfrischen Pfefferbaumästen und Blumen, die sie passend zu den Geschichten im Divân ausgesucht haben. Der Gastraum füllt sich schnell. Das liegt auch an Tomas Bjørnstad. Die Botschafterin kommt später. In Österreich sind Wahlen.
Später noch ein Lichtblick: die Dame von der Botschaft hat sich den Nachmittag freigenommen, um mir die Zeit vor der Heimfahrt ein wenig zu verkürzen. Bei unserem Rundgang durchs Mudam wird sie mit einem Mal knapp. Auf dem Handydisplay blitzt eine Nachricht auf. Martin schreibt: „Wann kommst du?“