Über Einsamkeit
Vor einigen Wochen war ich in Göteborg zur Buchmesse eingeladen.[1] Buchmessen – das weiß jede/r – sind eine zweischneidige Angelegenheit: Einerseits freut man sich als Autorin sehr über die Möglichkeit, anwesend zu sein, andererseits weiß man, wie wenig die Betriebsamkeit einer Messe dafür geeignet ist, Gegenständen Raum zu geben, die von sich aus etwas Stille brauchen. Die Sache, derentwegen ich eingeladen war, lautete schlicht „Einsamkeit“, Gespräche über das Thema Einsamkeit. Von den Fragen, die im Rahmen zweier Podiumsgespräche in einem tatsächlich ruhigen, kleinen Saal an je drei europäische AutorInnen gestellt wurden, beschäftigte mich eine noch auf dem Nachhauseweg. Vielleicht liegt das daran, dass die Moderatorin selbst sie mit einem gewissen warmherzigen Zögern gestellt hat, so, als ahnte sie, dass es schwer sein würde, hierzu etwas zu sagen, das über das Äußern von freundlichen PR-Sätzen hinaus geht.
Obwohl wir alle uns bemühten, eine möglichst brauchbare Antwort zu geben, entstand ein bisschen Schweigen, eine kurze Ratlosigkeit zwischen den Sätzen, etwas sehr Gutes also. Es hat dazu geführt, dass wir uns gegenseitig wahrnahmen, während wir sprachen, sogar mit einer leisen Neugierde. Die Frage lautete: Gibt es eine spezifisch europäische Einsamkeit? Ich gebe zu, dass ich das bis jetzt nicht weiß, aber je dringlicher mir die Frage folgte, desto deutlicher zeigten sich mir Merkmale einer Einsamkeit, die vielleicht nur in Gesellschaften hervortreten, deren vielfältige Lebensbereiche von Sattheit, ja von Übersättigung geprägt sind.
Zwar bin ich mir ganz und gar der Tatsache bewusst, dass es auch in unseren Gesellschaften Menschen in sehr existenziellen Schwierigkeiten gibt; Menschen, die tatsächlich Hunger haben. Aber da sich die Art solcher Einsamkeit gerade aufgrund ihres Ernstes und ihrer unmittelbaren Folgenschwere so deutlich von dem unterscheidet, was mir in den Sinn kommt, wenn ich etwas so Allgemeines wie „europäische Einsamkeit“ höre, muss ich sie vorerst beiseite lassen.
Ins Auge fassen möchte ich vielmehr eine unsichtbare Einsamkeit, eine Einsamkeit, die überhaupt nicht als solche in Erscheinung tritt, eine Einsamkeit, die es der Person, die unter ihr leidet, sogar möglich macht, sie gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Ihr Verdienst und ihr Potential ist es vielmehr, die von ihr Betroffenen in die Lage zu versetzen, den Druck und den Schmerz nicht zu bemerken, die mit ihrer Erfahrung einhergehen. Solche Einsamkeit schaut einer glücklichen Verfassung tatsächlich zum Verwechseln ähnlich, denn sie erlaubt einer Person, ein Kunststück zu vollbringen, das keiner zuwege bringt, der sich selbst als eine Last empfindet: Sie erlaubt einem Menschen, alles zu sein, oder besser: von allem etwas zu sein – je nachdem, was die aktuelle Situation verlangt. Verlangt die aktuelle Situation, dass man „Pop“ ist, so ist man „Pop“, verlangt sie kritischen Geist, so ist man „kritisch“, verlangt sie politische Korrektheit, so ist man politisch korrekt, verlangt sie große Worte, so scheut man sich keinen Augenblick, sie zu gebrauchen. Man ist gewissermaßen stets zugleich im Dienst all dieser Möglichkeiten. Hört man nicht immer wieder auch dort von „Liebe“ oder „Schönheit“ oder von „Demut“ reden, wo einem diese Worte so gar nicht hinzugehören scheinen? Politiker verlassen „demütig“ ihr Amt, Immobilienentwickler verweisen „demütig“ auf den Bau von Wohnungen, die sich keiner leisten kann, Schriftsteller nehmen „demütig“ ihre Preise an und Kritiker widmen sich „demütig“ ihren Aufgaben. Dass das Wort so inflationär gebraucht wird, erstaunt in einer Welt, die den großen Erzählungen der Traditionen, aus denen es kommt, längst das schärfste Misstrauen entgegenbringt und sie gern belächelt, so, als hätte man es hier insgesamt lediglich mit ein paar verbrauchten Altherrenphantasien zu tun. Kümmerten sich die alten Philosophien nicht ebenso um eine sinnvolle Bedeutung des Wortes, wie die religiösen Traditionen, die in Europa Verbreitung fanden? Nimmt man sich ausreichend Zeit, dort zu verweilen, erkennt man allerdings sehr schnell, dass „Demut“ durchaus nichts mit der falschen Bescheidenheit zu tun hat, die seinem Gebrauch wie ein Makel anhaftet. Teresa von Avila, deren so vielschichtiges Werk nicht nur für religiöse Menschen von Belang ist, beschreibt Demut beispielsweise als „Wandeln in Wahrheit“, und meint damit nichts Geringeres als eine Lebenspraxis, die sich vor sich selbst verantwortet. Dass in ihren Schriften der göttliche Geliebte eins mit diesem Selbst ist, vermindert den Anspruch nicht, der damit an die eigene Person gestellt ist (es erleichtert ihn nur): nämlich den, Worte und Handlungen nicht allzu weit voneinander sich entfernen zu lassen, denn das entwertet nicht nur die Realität des Lebens und der Person, es entwertet auch das, was die Alten „Geist“ nannten, eben das Wort.[2]
Wer sich in der wolkigen Einsamkeit befindet, in diesem Nebel, der es einem möglich macht, von allem etwas zu sein, den stört freilich weder die Entzweiung von Wort und Handlung noch die Entwertung der eigenen Person. Es würde viel eher stören, an der eigenen Produktivität gehindert zu werden oder ihrer schier unendlichen Flexibilität Grenzen zu setzen. Man hat ja mit ihr den Vorteil, überallhin zu passen, hier hin und dort hin. Taucht am Horizont, also in ausreichender Distanz, eine Stimme auf, der solches Treiben, solche Variante der Vernachlässigung missfällt, wird ihre Aussage ungehemmt übernommen oder adaptiert. Dass sie einem zu nahe kommt, ist unmöglich, denn die alles ermöglichende Einsamkeit strahlt längst kein Verlangen nach Nähe mehr aus; Kontakte sind es, was sie braucht, verbindliche Nähe und Gemeinschaft fallen lästig, wenn sie nicht gar bedrohlich sind.
Man könnte daraus den Schluss ziehen, dass eine Einsamkeit, die in Wirklichkeit kaum ein Problem kennt und keines darstellt, auch keines ist – dass daher alles in Ordnung ist in unserer europäischen Welt mit ihren Institutionen, ihren vielen der Sprache mächtigen Menschen, deren Fähigkeit, ein bisschen von allem zu sein, das Getriebe aufrechterhält. Aber es stimmt eben nicht, man kann sich nicht wohl damit fühlen, etwas sehr Schales bleibt zurück, wenn man darüber nachdenkt. Warum? So wenig, wie man ein echtes Bedürfnis nach Nähe zu einem andern dadurch ersetzen kann, dass man ihm eine lebensgroße Plastikpuppe kauft oder ein Smartphone oder ein hübsches Kleidungsstück, so wenig lässt sich das geistige Bedürfnis nach Klarheit, nach Anschaulichkeit, ja, nach Wahrheit dadurch stillen, dass man auf Dauer einen Abklatsch davon weiterreicht, eine gefällige Mischung aus ein bisschen Pop, ein bisschen Kritik und bisschen Demut. Es gibt nämlich eine Gemeinsamkeit zwischen der konkreten Einsamkeit, an der Menschen leiden, die aus sozialen Gefügen so weit ausgeschieden sind, dass sie nur noch notdürftig versorgt sind, und der Einsamkeit, die einen einholt, wenn man anfängt, am Gebrauch der Worte zu zweifeln, weil so viel ungeheuer Falsches mit ihnen geschieht: Sie öffnet Augen und Ohren nicht nur für die eigene Bedürftigkeit, sondern sie öffnet auch den Sinn für das Kompromisslose am Grund einer jeglichen Bedürftigkeit.
Ich erlaube mir, eine kleine Begebenheit zu erzählen, die sich vor vielen Jahren in einer tatsächlich sehr kalten Winternacht ereignet hat. Ich war auf dem Nachhauseweg von einem geselligen Abend unter Freunden, und da keine Straßenbahn fuhr, ging ich zu Fuß. Mich fror die ganze Zeit, weshalb ich sehr darauf hoffte, dass ein Taxi käme; es kam aber keins. In einem Hauseingang lag ein Mann auf dem bloßen Boden, vermutlich kein Europäer; er hatte weder eine Decke noch eine Matte, nur seinen Anorak; er war weder alkoholisiert noch unter Drogen. Ich war so entsetzt, einen Menschen in dieser Kälte liegen zu sehen, dass ich ihm das Geld, das ich bei mir hatte, anbot, um mit ihm in eine Einrichtung für Obdachlose zu fahren. Die Reaktion und das Gesicht des Mannes habe ich bis auf den heutigen Tag nicht vergessen: Er hat mich einfach nur angesehen und den Kopf geschüttelt und nein gesagt. Er wollte weder mein Geld noch meine Hilfe, und ich bin überzeugt, dass dieser Verneinung weder übertriebener Stolz noch falsche Bescheidenheit anhaftete noch irgendeine verborgene Vorliebe für eine kalte Nacht. Ich nahm etwas völlig anderes wahr: das Angesicht einer fundamentalen Blöße, einer vollständigen Nacktheit, die sich nicht abspeisen lässt mit ein wenig Geld für eine Nacht. Es war ein so einschneidendes Leiden spürbar, das mir nichts weiter sagte als: Ich bin für das Ganze da und nicht nur für den dürftigsten Teil davon. Man wird sich nicht darüber wundern, wie beschämt ich mich fühlte.
Um mich nicht falsch zu verstehen: Ich will damit keineswegs sagen, dass nicht jede Art der Sorge um andere gut und förderungswürdig ist – auch auf die Gefahr hin, dass sie ihren Adressaten völlig verfehlt. Auch verschiedene Formen des Nachdenkens haben ihre Berechtigung und verschiedene Kanäle, in denen sie vermittelt werden; und freilich auch alle Stätten der Kultur, selbst wenn ihre Darbietungen immer mehr eine bunte Mischung aus ein bisschen Pop, ein bisschen Kritik, ein bisschen Demut präsentieren, gerade so viel, dass keiner Wesentliches von der Sache im Gedächtnis behält. Aber wenn dieser unklare Mix hochgespielt wird zur höchsten Qualität, wenn mit ihm vorgegaukelt wird, dass das alles ist, was wir brauchen und dass das Höchste und Beste ist, was wir bekommen können, dann stimmt etwas ganz gravierend nicht mehr.
Es gibt nämlich neben der Einsamkeit, die als solche nicht ins Bewusstsein dringt, eine Einsamkeit, die genau das zulässt. Sie weigert sich, sich ihren Schmerz von den falschen Mitteln lindern zu lassen, und sie entzieht sich entschieden dem Zugriff vorschneller Glücksangebote. Sie ahnt, dass in ihr das Potential einer gründlichen Klärung wohnt, und erlebt diese für Momente so deutlich, dass sie ihrer Sache sicher wird. Und das, was aus ihr hervorgeht – sei es ein Werk oder die Fähigkeit zu tieferer Beziehung, sei es ein Mehr an Sinn dafür, wie die Dinge wirklich sind, oder eine andere Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber – wird sich für immer durch einen qualitativen Unterschied zum Mittelmaß auszeichnen.
Aber wo werden die Bemühungen noch sichtbar, die sich in den Bereichen des „Geistes“ um diese qualitativen Unterschiede tatsächlich kümmern? Ist von der Vorstellung einer verantwortungsvollen Kritikfähigkeit, die bereit ist, sich der Aufgabe auszusetzen, Sachen auf den Grund zu gehen, denn genügend Erkennbares geblieben? Falls jemanden hier Sorge befällt, ist sie jedenfalls mehr als berechtigt. Höchste Zeit, wieder mit einem geschärften Sinn in die alten, ja „europäischen“ Traditionen zu hören, in die fruchtbaren Spuren, die sie gezogen haben, und sich von dort – antwortend – erzählen zu lassen, was die großen Worte den Menschen tatsächlich zumuten und zutrauen? Es ist etwas so wunderbar Anderes, als ihr etablierter redseliger Gebrauch nahelegt.
[1]Sie fand Ende September 2022 statt, eingeladen hatte die Österreichische Botschaft in Stockholm. Der Text entstand kurz danach und wurde Anfang Jänner im Spectrum der Presse veröffentlicht.
[2] Es ist nicht einfach, Teresa von Avilas komplexe Zeichnungen des „mystischen Weges“, bzw. der „inneren Burg“ – eine Art von sehr gründlicher Selbst- und „Gotteserkenntnis“ – in zeitgenössische Sprache zu übersetzen, noch dazu in solchem Blitzlicht. Die Gefahr der Verkürzung ist groß, zumal in Zusammenhängen, wo es problematisch geworden ist, auf eine Dimension des Heiligen zu verweisen. Aber für ihr Verständnis von Demut lohnt es sich, dieses Risiko einzugehen. Ergänzt sei nur, dass ihre Erkundung die Bereiche des Denkens, Fühlens, Wollens und Handelns umfasst.