Coucou Generalstreik!
Nicht zuletzt ein Gedicht in Form einer Uhr überzeugte mich, dass es sich lohnt, das Französische zu lieben. »Grill kommt zu spät« hatte acht Jahre lang fast täglich im Klassenbuch gestanden, zur Matura kam sie rechtzeitig – und bestand, unter anderem mit einem Text über das Zuspätkommen und das zu schnelle Vorrücken der allgemeinen Zeit im Vergleich zur inneren Uhr, im Stil der französischen Surrealisten. Bei Guillaume Appolinaire hatte ich entdeckt, dass Texte nicht aus ordentlich untereinanderstehenden Zeilen bestehen müssen, durchaus rund sein können, eckig oder eine Spirale, auch aussehen dürfen wie eine Frau mit Hut oder der Eiffelturm. Seine »Calligrammes«, in denen er mit Worten zeichnete, beeindruckten mich nachdrücklich. Ohne die Erfahrung, mit einem Gedicht eine Prüfung bestehen zu können, hätte ich vielleicht gar nicht ernsthaft zu schreiben angefangen. Ohne meine Lehrerin Cornelia, die mit den Worten »Quant j’étais en France, j’ai pris dix kilos« von einem Jahr in Frankreich zurückkehrte, wäre ich Appolinaire jedenfalls nicht so früh begegnet.
Seither nehme ich jede Einladung nach Frankreich freudig an. So auch diese nach Poitiers zu »Bruits de langues«. Helene Carpentier, Professorin an der Universität Poitiers, erzählte mir voriges Jahr von dem Festival, als wir uns in Tirana zufällig kennenlernten. Wir kamen ins Gespräch, weil sie sich für Literatur interessiert und ich mich für alle Menschen interessiere, die Französisch sprechen. Sie könnten ja surrealistische Dichter*innen sein!
Möglich machten meine Reise dann die OeAD-Lektoren Attila Huszar und Patrick Huemer mit finanzieller Unterstützung des ÖKF-Paris. Geplant war, dass ich neben Poitiers auch Bordeaux besuchen würde. Kaum in Poitiers angekommen, nach einer herrlichen Fahrt vom Gare Montparnasse aus, in einem bequemen rosa Fauteuil, in dem ich es länger ausgehalten hätte, als 1 Stunde 15 Minuten, bekomme ich laufend Nachrichten von der SNCF: Meine für die Weiter- und Rückfahrt gebuchten Züge für die nächsten Tage sind »supprimés« wegen »grève générale«.
Ich sympathisiere mit den Streikenden; obwohl ich in einem Land lebe, in dem das Pensionsalter höher ist, als das, was in Frankreich Entrüstung hervorruft. Obwohl ich mich frage, warum wir nicht dafür kämpfen, dass alle eine Tätigkeit ausüben dürfen, die uns so gut gefällt, dass wir niemehr damit aufhören wollen? Natürlich, in manchen Berufen geht das nicht. Aber in anderen doch wohl? Ich möchte schreiben bis ich hundertzehn bin. Solange es noch jemanden gibt, der lesen will. Vielleicht wäre Leser*in ein Beruf der Zukunft? Pensionsalter bis in unbestimmte Zeit verschoben? Ich bewerbe mich sofort.
Jetzt sitze ich stundenlang am Computer, buche neue Tickets, die binnen der nächsten Stunde wieder als »supprimés« gemeldet werden. Autostopp gibt’s nicht mehr. Alle Tickets müssen im Vorfeld gebucht werden. Stundenlanges Warten in Bahnhofscafés wäre sinnlos, für alle Züge besteht Reservierungspflicht. Ich verspüre Nostalgie nach vergangenen Zeiten, in denen du einfach in jeden Zug einsteigen konntest, der fuhr. Lade die Seite neu: Keine freien Plätze verfügbar für die nächsten zwei Wochen. Attila lädt mich ein auf ein Linsengulasch, Käse, rubinroten Wein. Es könnte sein, sagt er, dass der Streik auch die Universität lahmlegt.
Anfang der 1990er Jahre stellten wir Betten auf die Piazza in Perugia, direkt neben die mittelalterliche Fontana Maggiore; ich war nur Erasmus-Studentin, fühlte mich den Streikenden aber sehr verbunden.
Ich bin in der Stimmung, auch in Poitiers Betten auf den Hauptplatz zu stellen, unter freiem Himmel Texte vorzutragen.
Das ist nicht nötig. Das Festival findet statt. Der Saal ist voll. Vor aufmerksamem Publikum lese ich einen Auszug aus meinem Roman »Cherubino« in der wunderbaren französischen Übersetzung von Florence Hetzel. Das darauf folgende Gespräch, moderiert von einem Studenten von Attila, der das Buch auf Deutsch gelesen hat, zeigt: Junge Männer verstehen die Nöte der Protagonistin Iris, deren Karriere als Opernsängerin durch eine Schwangerschaft auf dem Spiel steht, genauso gut wie Frauen. Enthusiastisch wird nach dem Erscheinungstermin der französischen Ausgabe gefragt. 2024, hoffe ich.
Poitiers wächst mir sofort ans Herz. Eine gemütliche Stadt mit malerischen Häuserzeilen, Kirchen aus dem 12. Jahrhundert, mittelalterlicher Bauten. Besonders begeistert mich das Baptisterium St. Jean aus dem 6. Jahrhundert, einer der ältesten Sakralbauten Frankreichs. Nach Bordeaux wäre ich trotzdem gern gefahren. Es erweist sich allerdings am Tag eines Generalstreiks als zu weit weg. Ich bleibe in Poitiers, ziehe um aus dem AirBnB ins Hotel de l’Europe (danke Stephane Bikalo), gehe im Park spazieren, habe schon mein bevorzugtes Café, »Café de la Paix« am Hauptplatz. Als ich frage, ob sie etwas Süßes haben, schlägt der Kellner vor, ich solle es mir aus der Bäckerei um die Ecke holen. Er würde dann den Kaffee dazu servieren.
Das Frankreich meiner Träume scheint in dieser Stadt auch nach dem Wachwerden noch fortzubestehen. Nur ob ich je wieder nach Paris oder Wien komme?
Ich halte meine Veranstaltung in Bordeaux von Attilas Schreibtisch aus, via Zoom. Einige Studierende sind per Computer zugeschaltet – auch sie haben es wegen des Streiks nicht an die Uni Bordeaux geschafft. Diesmal lese und spreche ich vor allem Deutsch. Die Diskussion gestaltet sich wiederum lebhaft. Manche schreiben im Chat. Die Fragen nehmen kein Ende, bis Patrick meint, es seien schon einmal Leute eingesperrt worden, die abends zu lange in der Universität geblieben waren.
So eine Geduld über Texte zu sprechen, habe ich selten erlebt. So viel echte Neugier darauf, wie das Gewebe des Lebens mit dem Stoff zusammenhängt, aus dem die Sätze sind.
Ob Streikende die besseren Leser*innen sind?