Wir schreiben das Jahr 1990. Die Berliner Mauer war gefallen, der eiserne Vorhang von der Stange gerissen, Diktatoren und deren Gattinnen waren gestürzt, ins Ausland geflohen oder hingerichtet. Die Fernsehbilder des toten Ehepaares Ceausescu ließen uns erschauern. Wir fühlten uns wie Zaungäste und schwammen gleichzeitig im Strom der allgemeinen Zuversicht mit, die auf nichts Bestimmtes und auf Alles gerichtet war.
An einem Freitagabend im Januar fuhr ich, damals noch Student in Wien, nach Linz, um meine Eltern zu besuchen. Ein Mann Mitte zwanzig irrte orientierungslos am Bahnhof herum, er wollte weiter nach Polen, zu einem Mädchen, in das er verliebt war. Er hatte den letzten Zug verpasst und besaß weder Geld für ein Hotelzimmer noch für Essen. Es waren die Monate, während der man jedem Osteuropäer vertraute, der sich gegen sein Land gestellt hatte. Ich lud ihn ein.
Seinen Namen muss ich damals in einem meiner Notizbücher verzeichnet haben. Jahrelang haben sie in einer Kiste gelegen, im Keller meines Elternhauses in Langholzfeld, einer Siedlung in der Nähe der oberösterreichischen Landeshauptstadt. Mittlerweile sind meine Aufzeichnungen dieser Jahre verloren gegangen. Aber der Fremde soll einen Namen haben. Nennen wir ihn Dan.
Aus den Tiefen des Weltgeschehens war Dan zu uns gekommen, war aus dem Auge des Orkans zu uns geweht worden. Während der Wirren der rumänischen Revolution hatte er in einem Flügel des Ceausescu-Palasts, mit einem Messer bewaffnet, verletzte Aufständische bewacht, um sie vor den Männern der Securitate zu beschützen. Ich war, während Europa sich grundlegend veränderte, Zuschauer gewesen. Er ein Handelnder. Meine Eltern beherbergten Dan für eine Nacht. Als er am nächsten Tag nach Polen aufbrach, schenkte ihm mein Vater 1000 Schilling für die Reise. Mein Vater konnte gegenüber Menschen in Not großzügig sein, offenbar noch großzügiger gegenüber Menschen, die in seinen Augen Europa vom Übel des Kommunismus befreit hatten – wofür er selbst keinen Finger hatte rühren müssen. Wochen später schickte Dan eine Postkarte, anschließend habe ich nie wieder von ihm gehört. Aber wenn ich während der folgenden Jahre von einer Situation überfordert war, war ich überzeugt, Dan würde sie meistern. Geriet ich in eine Lage, in der Solidarität verlangt war, dachte ich, Dan würde sie nicht verweigern. War ich auf einer Reise orientierungslos – er würde sich zweifellos zu helfen wissen. War ich hoffnungslos verliebt, hatte ich Gewissheit, Dan würde die Entfernung überwinden – welcher Art auch immer sie war.
Jahre nach unserer Begegnung, im Jahr vor Ausbruch der Corona-Pandemie, war ich zu einem Jugendliteraturfestival nach Bukarest eingeladen. Auf Vermittlung von A., einem Mitarbeiter des Österreichischen Kulturforums, entstand ein Kontakt zu O. vom rumänischen Radio. O. nahm die Übersetzung und Produktion eines meiner Hörspiele in Angriff. Langholzfeld. Das Stück war bereits vom Österreichischen Rundfunk produziert worden, erzählt von der Straße, in der ich aufgewachsen war, vom Tod meines Vaters, den neuen Mitbewohner*innen, die ihre Wurzeln am Balkan haben, von politischen Umbrüchen und ihren Auswirkungen auf die Menschen in der Siedlung, in der auch die Begegnung mit Dan stattgefunden hat. Während der Arbeit an Langholzfeld hatte ich immer wieder an Dan gedacht, aber trotz dahingehender Überlegungen, wurde er schlussendlich kein Teil der Handlung.
Im Juni 2022 fuhr ich zum Grand Prix Nova International Radio Theatre Festival in Bukarest, um über die deutsche und rumänische Version von Langholzfeld zu sprechen, allgemeine Diskussionsrunden und die Preisverleihung zu moderieren. Während der Anreise beschloss ich Dan – den in Langholzfeld unerwähnten Revolutionshelden – wiederzufinden. Um seinen richtigen Namen zu erfahren. Um seine Version der Geschichte von damals zu hören. Um einander zu erzählen, was uns in den Jahren seit unserer Begegnung widerfahren war, woran wir festgehalten haben, was uns verändert hat. Damals war er aus einer völlig anderen Welt gekommen. Die Oberfläche dieser Welt hatte sich in der Zwischenzeit der Oberfläche meiner Welt angepasst. In Bukarest gab es an jeder Ecke einen Coffeeshop. Die bekannten Modelabels hatten Geschäfte eröffnet. Internationale Hotelketten ihre Logos angebracht. Für mich als Reisenden war es schon immer schwer gewesen hinter die Fassaden zu blicken. Dan aber wird mich mit in die Tiefe dieser Stadt, dieses Landes, dieser Kultur nehmen, aus der er damals zu mir aufgestiegen war. Selbst wenn er von dieser Reise nach Polen nie nach Rumänien zurückgekehrt sein sollte, schienen mir die Voraussetzungen gut. Auf dem Festival würde ich Radiokolleg*innen aus ganz Europa treffen und ich war mit A. vom österreichischen Kulturforum verabredet. Ich könnte, so meine Spekulation, meine Suche über Europas Rundfunkstationen verbreiten lassen und mit Hilfe der Botschaft diplomatische Wege nutzen. Vor über dreißig Jahren waren Dan und ich uns durch Zufall begegnet. Jetzt wollte ich ein Treffen bewusst herbeiführen.
Kennt jemand einen Dan, der mit einem Messer bewaffnet für die Revolution gekämpft hat? Der 1990 via Österreich nach Polen gereist war, um ein Mädchen zu treffen, in das er verliebt gewesen war? Das er mittlerweile vielleicht geheiratet, mit der er Kinder hat? Ich sah mich auf der Straße um und hoffte, Dan zu erkennen, wie einen Zwilling, von dem man bei der Geburt getrennt worden war. (Erst nach einer Weile korrigierte ich meinen Blick, hielt nicht nach einem Mittzwanziger, sondern nach einem Mittfünfziger Ausschau.) Aber bis zum letzten Tag meines Aufenthaltes bat ich weder A. noch meinen Radiokolleg*innen um ihre Hilfe bei der Suche nach Dan. Was sollten sie auch mit meinen zweifelhaften, zumindest spekulativen Angaben anfangen? Auch mein Ausschauhalten im öffentlichen Raum war sinnlos. Erinnerte ich mich doch nicht nur nicht an Dans richtigen Namen – seine Statur, seine Gesichtszüge, die ich in einem dreißig Jahre älteren Mann wiedererkennen hätte müssen, waren längst verblasst.
Am Abend des letzten Tages spazierte ich endlich vor den gigantischen Ceausescu-Palast. Hier war Dan, meinen Erinnerungen zufolge, Ende 1989 im revolutionären Einsatz gewesen. Während des Radio-Festivals hatte ich einer Geschichte gelauscht, die von einem Mörder erzählte, der an den Ort der Tat zurückgekehrt war. Vielleicht war mein Revolutionsheld ja auch an den Ort seiner Heldentaten zurückgekehrt. Ich wollte mich einer der hier angebotenen Touristentour anschließen, ich phantasierte, mich von der Gruppe zu lösen, mich durch die Flure und 1385 Zimmer des Palastes zu stehlen. Um Dan angesichts der Größe des Palastes wieder zu begegnen, wäre ich abermals auf einen Zufall angewiesen. Aber der Zufall hatte uns ja schon einmal in die Hände gespielt. Morgen würde ich abreisen, das war meine letzte Chance, vielleicht sogar die bisher vielversprechendste. An der Kassa erfuhr ich allerdings, dass die letzte Tour für diesen Tag bereits gestartet war. Man könnte mich unmöglich alleine losschicken, ich würde mich gewiss verirren, sagte man mir mit einem herzerfrischenden Lachen. Ich atmete tief durch und bemerkte im selben Augenblick, wie erleichtert ich war, dass auch diese Möglichkeit ungenutzt verstrichen war.
Meine Suche nach Dan war eine Suche gewesen, bei der ich die ganze Zeit über gehofft hatte, nichts zu finden. Hätte ich Dan, meinen Helden, tatsächlich gefunden, wäre ich einem Menschen begegnet – einem Menschen, wie Menschen eben sind, mit all ihren Widersprüchen, ihren Ambivalenzen, ihren guten und schlechten Seiten. Vielleicht wäre er ein Freund geworden. Um einen Freund zu finden, hätte ich aber meinen Helden aufgeben müssen. Kein Held behält seinen Status nach einer tiefergehenden Überprüfung. In den vergangenen dreißig Jahren hatte ich immer wieder Menschen auf einen Sockel gehoben. Schauspieler*innen, Autor*innen, Moderator*innen, Menschen, die mir eine Weile bei dem, was ich selbst anstrebte oder tat, Leitbild waren. Sie alle gab ich nach einer Weile auf, ersetzte sie durch andere. Ich entwickelte mich weiter, brauchte neue Orientierungspunkte. An Dan habe ich all die Jahre festgehalten, ihn hatte ich nie aufgeben oder austauschen mögen. Oftmals war ich solidarisch, weil ich Dan für solidarisch hielt. Ich war mutig, weil ich Dan für mutig hielt. Ich habe mich für einen Menschen entschieden, weil Dan sich in meiner Vorstellung für seine große Liebe entschieden hatte. Ich habe diesen Helden der Revolution in den vergangenen drei Jahrzehnten gebraucht und werde ihn auch in Zukunft noch nötig haben.
Und deshalb zum Schluss eine Bitte: Sollte sich ein Leser dieses Textes, in dem von mir beschriebenen Dan wiederfinden, sollte jemand einen kennen, der eben dieser Dan sein könnte, bitte ich ihn oder sie hiermit inständigst, dies für sich zu behalten, darüber zu schweigen, nicht weiter zu erzählen, mich nicht anzusprechen, keinerlei Kontakt zu mir zu suchen. Mittlerweile ist mir nämlich klar geworden, ich möchte Dan auf keinem Fall verlieren, indem ich ihm ein zweites Mal begegne. Ich möchte ihn so haben, wie ich ihn mir über die Jahrzehnte hinweg geformt habe. Er soll das bleiben, was er immer für mich gewesen ist: Ein Held.
Der Text entstand im Rahmen der Reihe ›Begegenungen – Eine literarische Reise österreichischer Autor*innen durch Rumänien‹ vom Österreichischen Kulturforum Bukarest.