Zwei Personen – drei Sprachen – mehrere Dimensionen – ein Projekt. Anlässlich eines Symposiums zum Anthropozän am Haus der Kulturen der Welt in Berlin begegneten sich im Frühjahr 2022 Ann Cotten und SHINOHARA Masatake 篠原雅武. Cotten – eine Autorin, die sich in ihren literarischen Texten sehr intensiv mit Sprache(n) beschäftigt und selbst mehrsprachig ist – traf auf Shinohara, Professor an der Universität Kyoto, der zum einen auch als Übersetzer arbeitet und zum anderen auch Gespräche mit „Künstlernnnie und anderen Spezialistennni“ führt (wir übernehmen hier Cottens „polnisches Gendering“). Sie begannen einen Austausch über die internationalen Unterschiede und Nuancen der Begrifflichkeiten und Schlagwörter im schnell wachsenden Feld der ecophilosophy (Ökophilosophie). Dadurch, dass beide bei hoher Sprachkompetenz als Fremde auf die anglophonen Trends blicken, entsteht eine einzigartige Perspektive, in der eine respektvolle Annäherung und Befragung von Ideen und Begriffen, gekoppelt mit Anwendungsversuchen, einen Kontrast zum im deutschen Sprachraum üblichen polemischen Hickhack bildet.
Ziel des Projekts sei es, die Wissenslücken in Bezug auf außereuropäische Philosophie in der westlichen Welt zu füllen. Dabei stellt die japanische Philosophie eine besondere Folie dar, da sie sich schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts die Praxis eines Umgangs mit Ideen aus dem Rest der Welt erarbeitet hat, die in einer globalisierten, modernen, durchtechnologisierten Welt notwendig ist. Es fehle in Europa beispielsweise an wertneutraler Auseinandersetzung mit der Sensibilität der Menschen in Bezug auf ihre Technologie. Hier schwanken wir zwischen Affirmation und Kritik, während in Japan hier nicht von einem grundsätzlichen Kontrast ausgegangen wird. Dies liege an der idiotischen Tradition des mind-body-dualism, so Cotten, die mit einiger Leidenschaft von Shinoharas Methodik schwärmt. Sein Schreiben habe ihr gezeigt, wie man auch über sehr komplexe Themen schlicht und transparent schreiben könne. Bis dahin habe sie versucht, literarische und wissenschaftliche Arbeit – Cotten promoviert an der FU in Berlin am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft – zu trennen, auch weil für sie das literarische Schreiben auf Deutsch immer ein Beharren auf Vertracktes, ein Verbauen von zu einfachen Lösungsversuchen und Einordnungen bedeutet habe, während es bei ihrem wissenschaftlichen Projekt um Koordination und Verknüpfung gehen soll. Literarische Sensibilität spiele jedoch eine wichtige Rolle im Austausch über die immer noch, wenn auch nur inoffiziell, poetisch aktiven Nuancen in Begrifflichkeiten, die man verwende, – dass man die literarischen Skills nicht verbannen sollte, sondern gebrauchen kann, wurde Cotten bei der Zusammenarbeit mit Shinohara klar und helfe ihr, eine konstruktive Schnittstelle zwischen Literatur und Wissenschaft zu finden.
Die erfolgreiche Bewerbung bei den ›Internationalen Literaturdialogen‹ gibt Ann Cotten und Shinohara Masatake die Möglichkeit, an einem Projekt zu arbeiten, das nicht nur für sie, sondern auch für andere Personen spannend sein könne, hofft die Autorin. Der Arbeitsprozess begleitet eine recht extensive Lektüre mit dem Ziel, eine Art Glossar mit einem Lektüretagebuch auf der anderen zu entwickeln. Das heißt, dass die Befragung und Erkundung der Begriffe nicht aus dem Nirgendwo kommt, sondern aus den konkreten, lebensweltlichen Lese- und Denksituationen – wodurch die Notwendigkeit der Fragestellungen, das Bedürfnis nach diesen Gedanken von vornherein deutlich ist, die Textarbeit keine müßige, die erst in einem zweiten Schritt auf die Welt angewendet werden müsste. In dieser Form kurzer Einträge, die parallel auf Englisch, Deutsch und Japanisch verfasst werden, sammeln und besprechen Shinohara und Cotten Begriffe und keywords (allzu unangenehm stößt hier das deutsche „Schlagwort“ auf), geplant sind insgesamt 40 bis 50, und präsentieren diese auf einer für das Projekt angelegten Website. Jeder Text wird mit Datum, Ort und Wetter versehen werden, sodass die internationale Kartierung auch die Fragilität der arbeitenden Augenblicke dokumentiert. Folgende Beispiele geben einen Einblick in die gewählten Themen und Begriffe:
間、亀裂 – gap, space-between; fissure – Zwischenraum, Haarriss
In seinem Aufsatz 日常の 亀裂/亀裂の未来 (die alltäglichen Risse/Spalte und die Zukunft in der Öffnung – vorläufige ÜS AC) tastet sich Shinohara an die Möglichkeit des Denkens von radikal Anderem an. Dabei bezieht er sich zum einen auf Philosophen der object oriented ontontology wie Graham Harman oder Timothy Morton, die Respekt und offene Sinne für das radikal Andere des Anderen einfordern, auf die nukleare Katastrophe von Fukushima und wie damit die natürliche und menschengemachte Natur als nicht domestizierbare deutlich wurde, und auf die Arbeit der Fotografin 川内倫子Kawauchi Rinko, die auf besondere Art herkömmlich unbeschreibliche, aber ästhetisch wahrnehmbare Kräfte zu zeigen vermag. In diesen mehrfachen Gesichten des Anderen lässt sich das buddhistische Konzept 他力, Fremdkraft, denken, ein Konzept, das ermahnt, wie sehr wir zu allem Gelingen auf gegenseitige, auf Hilfe von außen angewiesen sind. Diese Lesart von Riss als Öffnung in eine konzeptuell „andere“ Welt ist eine völlig andere Deutung als die „kritische Ästhetik“, in der Brüche im europäischen Raum mit einem heroischen Avantgardepathos versehen werden. Aber ist sie denn wirklich so anders? Kann man das störrische, sperrige Tun der bad boys und girls der künstlerischen Avantgarden vielleicht als Appell an die Segnungen des Zufalls verstehen?
畏怖すべき自然とまっさらな世界 – compulsory awe for nature and a fresh world/world as “other”? – Verpflichtende Beeindrucktheit gegenüber der Natur (Erhabenheit?) und eine unerhörte (?) Welt (als Gegenüber?) (篠原)
泥、曖昧、靄、雰囲気 – mud, vagueness, mist, atmosphere – Schlamm, Vagheit, Nebel, Atmosphäre
二重の世界 – two layered world – zweischichtige Welt (篠原)
縁の空間論 – en-spatial theory – en-Raumtheorie (篠原)