Als ich am 04. Juni 2018 in Cluj ankomme, muss ich an einen Romanistik-Professor der Universität Wien denken: Er brachte uns ein dickes Skriptum in den Abendkurs, welches offenbar versuchte, das Format des damals noch in Gebrauch befindlichen Wiener Telefonbuchs zu imitieren. Das Konvolut umfasste Texte in den unterschiedlichsten romanischen Sprachen. Es sollte uns helfen, »Transformationsregeln« zu erforschen, die es erlaubten, sich von einer Sprache in die andere »hinüberzurechnen«. Euphorie: Alles schien verstehbar zu werden. Länder taten sich auf, wuchsen zusammen – und das durch wenige und von allen erlernbare Formeln. Dann plötzlich eine Wand – der rumänische Text. Sonderzeichen kündigten sie an wie Mauerbewuchs. Bald sah es so aus, als führte gerade das Sich-Verstehen, das Verschmelzen mehrerer Einflüsse dazu, dass diese Sprache nicht so leicht zugänglich war wie die anderen. Ihre Fremdheit, stellte ich fest, entsprang jedoch vor allem meinem peinlichen Mangel an Wissen. Das Staunen war eine Folge eines zu engen, immer auf demselben Segment der Landkarte klebenden Blickwinkels, eines provinziellen, am Eindeutigen orientierten Denkens. So ein Ignorieren versteht das Bekannte losgelöst vom Gewebe, aus dem es besteht. Es verursacht dumme Empörung vor der Vermischung. Es entwickelt ein Befremden vor Sprachen, die mehrere Füße haben, wo eine solche Mehrfüßigkeit doch als Zeichen einer größeren Standfestigkeit und Gewandtheit verstanden werden müsste: Da verlässt sich eine Sprache nicht auf eine einzige Ordnung, bietet mehrere Filter. Erst beim Unterrichten des Deutschen als Fremdsprache wurde mir später bewusst, welch Konglomerat das Deutsche ist.
2018 dann die Reise zum XI. Kongress der Gesellschaft der Germanisten Rumäniens. Der Fahrer, der mich in Cluj vom Flughafen abholt, erzählt mir auf dem Weg von seiner ungarischen Herkunft. Wie um die Verwandtschaft des Erzählens mit dem roten Faden, dem Zählen nach einer gewählten Reihe, zu beweisen, gibt er mir eine Liste anderer Bevölkerungsgruppen, nummeriert sie nach Berufsgruppen und Wohnstilen. Auf der Basis seiner Ausführungen entwickelt sich in den nächsten Tagen meine erste Skizze von Rumänien als dem Traum eines Europa, in dem Menschen unterschiedlichster Herkunft mit unterschiedlichsten Entwürfen zusammenwirken. Dass mir fast jede Person, mit der ich an einen Tisch gerate, Sprach- und Religionszugehörigkeit als Besteck neben den Teller legt, bleibt dennoch ungewohnt. In Oradea erzähle ich, dass ich zwischen Hotel und Stadt mehrere Male eine Roma-Siedlung durchquert habe, dass es dort eine kleine verlassene Bühne gibt. Oft stehen Menschen darum herum, als warteten sie auf das bald eintreffende Ensemble. Da schlägt man die Hände über dem Kopf zusammen, bietet mir Geleitschutz an. Weil ich bisher auf meinen Wanderungen keinerlei Gefährdung verspürt habe, verwirrt mich das sich entwickelnde Gespräch, in dem sich die einen Deutschsprachigen von den anderen differenzieren, ein paar andere von den einen offenbar ganz anderen, Katholiken von orthodoxen Christen, Menschen, die sich Einflussbereichen zurechnen, von denen, die sie dort abziehen. Ich erfahre von Verdiensten und Versäumnissen unterschiedlicher Gruppierungen aus wechselnden Perspektiven, und das mit immer ähnlichen, doch kaleidoskopartig sich umordnenden Bewertungen. Langsam beginne ich, mir die Frage zu stellen, ob auch bei mir die Notwendigkeit solcher Identität bestehen könnte. Hat mir in dieser Hinsicht immer schon etwas gefehlt? Interessant finde ich jedenfalls, dass in den Gesprächen fortlaufend ein Staat Rumänien gebildet wird, indem dessen Geschichte ununterbrochen neu erzählt wird. Ich sehe wie in einer Animation, dass ein Land eben wirklich aus lauter Individuen besteht. Rumänien bekommt in meiner Vorstellung, die ich beim Heimgehen auf die leere Bühne in der Roma-Siedlung projiziere, das Aussehen eines Kochtopfs, in dem jeden Tag rund um die Uhr aufs Neue Rezepte des Organisierens erprobt werden. Ein paar Menschen in der Siedlung grüßen mich. Dann stehe ich auch schon wieder am Flughafen in Cluj. Die Synapsen rauchen vor den rumänischsprachigen Hinweismonitoren. Mit immensem gedanklichem Übergepäck steige ich in die Maschine und stürze mich (wieder) in Bücher von Oskar Pastior, Herta Müller, Nora Iuga, Gellu Naum, Urmuz und Mircea Cărtărescu, und alle oberösterreichischen Bezirkskennbuchstaben RO für Rohrbach schicken meine Gedanken jetzt beim Vorbeigleiten von Autos nach Rumänien.
Im Jahr 2020 arbeiten Otto Saxinger und ich an unserer Video-Installation »Youtopia – Plan B. Atlas einer utopischen Welt«. Auf Vermittlung von Frau Prof. Mariana-Virginia Lăzărescu dürfen wir kurz vor dem Aufflammen der Pandemie in Bukarest Studierende, aber auch Lehrende sowie eine Journalistin interviewen. Die utopische Blaupause lässt nicht zufällig Blauäugigkeit anklingen. Gerade das aber reizt uns an dem Projekt. Wir sind darauf aus, nach Vorstellungen zu Detailveränderungen und nicht nach Systemen zu fragen. Nicht bewusst ist uns allerdings zunächst, wie sehr der Begriff der Utopie selbst im Ohr der meisten der Befragten hier korrumpiert ist. Die Kluft zwischen den tatsächlichen Lebensumständen und der Behauptung kommunistischer Machthaber, man lebe in einer idealen Gesellschaft, machen die Versuche, sich eine erwünschte Zukunft vorzustellen, zu einer anrüchigen Unternehmung. Zwar ist uns selbstgefälliges Plänkeln mit Systemen der einen oder anderen Art, das in den sicheren Kreisen für intellektuell sich haltender Gruppierungen in Österreich wie eine Markensonnenbrille im geschlossenen Raum getragen wird, seit jeher suspekt. Aber auch die Empathie, die uns dazu veranlasst hat, derartigem Herumtragen von Flaggen reserviert gegenüberzustehen, ist eben eine, die aus der Identifikation mit Figuren resultiert. Jetzt treffen wir auf reale Betroffenheit jenseits der Schriftlichkeit, die sich auch für uns ganz anders anfühlt: Es ist ein Unterschied, ob man sich lesend in einen Protagonisten, eine Protagonistin einfühlt, oder ein Mensch sein Erleben schildert. Ganz unterschiedliche Weisen des Erlebens derselben Geschichte treten uns da mitten aus dem Alltag entgegen. Zugehörigkeiten und Herkünfte der Menschen lassen unser Bild des Vergangenen, das für die Vorstellung einer möglichen Zukunft so grundlegend ist, zu einem hitzeflimmernden, ständig neu zu betrachtenden Gebilde werden. Es ist schön, in den langen Gesprächen zu kleinen Vorstellungen eines guten gemeinsamen Lebens zu gelangen – zu realistischen und zu phantastischen. Es ist schön zu sehen, dass vielen Menschen ähnliche Dinge wichtig sind. Nirgends aber wird in dem Projekt so sehr wie hier spürbar, dass zwischen den individuellen Entwürfen immer wieder verhandelt werden muss. An keinem anderen Drehort wird uns derart deutlich, dass eine Utopie nur ein ständiger Prozess und auf keinen Fall ein System sein kann. In Bukarest haben wir für uns diese Lehre aus dem Projekt entwickelt: Die Utopie heißt vielleicht nicht Nichtort, weil sie nirgends ist, sondern weil sie ständig in Bewegung ist.
Der Text entstand im Rahmen der Reihe ›Begegnungen – Eine literarische Reise österreichischer Autor*innen durch Rumänien‹ vom Österreichischen Kulturforum Bukarest.