Jenen Personen eine virtuelle Bühne bieten, denen seit Beginn der Pandemie viele Auftritte weggebrochen sind, die aber auf Live-Performances angewiesen sind – das ist, kurz gesagt, das vorrangige Ziel des von Elias Hirschl initiierten Projekts. Da er sich selbst schon lange in der Poetry Slam-Szene bewege und sich dadurch, international gesehen, hier am besten auskenne, sei es naheliegend gewesen, Autor*innen aus diesem Umfeld einzuladen, Slam-Texte zu verfassen, welche dann im Rahmen des Projekts online präsentiert werden sollen.
Als Projektpartner hat er sich den italienischen Poetry Slammer Simone Savogin ins Boot geholt, der schon in früheren Phasen der Pandemie Online-Lesungen auf Twitch veranstaltete – Savogin sei überhaupt, so Elias Hirschl, seit Jahren einer der engagiertesten Menschen in der europäischen Poetry Slam-Szene. Nicht zuletzt sei es sein Verdienst, das Genre in Italien durch seinen Auftritt bei ›Italia’s got Talent‹ einer breiteren Masse bekannt gemacht sowie durch die Gründung einer neuen Poetenvereinigung die deutsch- und italienischsprachigen Teile Italiens in einem gemeinsamen Wettbewerb verbunden zu haben.
Doch bevor wir näher in das Projekt eintauchen, müssen wir erst einmal die Basics klären. Fast jede/r ist sicherlich schon einmal in irgendeiner Form mit Poetry Slam in Berührung gekommen, wirklich viel Einblick in diese Welt haben außerhalb der Szene Stehende jedoch selten. Was unterscheidet Poetry Slam eigentlich konkret von anderen Genres? Gibt es in den verschiedenen Ländern Unterschiede im Stil? Und wie funktionieren die diversen ausgetragenen Meisterschaften? – Wir haben bei Elias Hirschl nachgefragt.
POETRY SLAM: WHAT YOU NEED TO KNOW
Während Prosa und Lyrik mit dem Gedanken verfasst werden, von den Rezipient*innen gelesen zu werden, sind Poetry Slams für den einstudierten Vortrag bestimmt, wobei zumeist viel mit Gestik und Mimik gearbeitet wird. Normalerweise treten die Slammer*innen in Wettbewerben gegeneinander an, bei denen das Publikum am Ende darüber abstimmt, wer den besten Text und die beste Performance abgeliefert hat. Diese spezielle Ausgangssituation habe, so unser Gesprächspartner, einerseits zur Folge, dass man beim Schreiben der Texte auf andere Sachen achte als etwa bei Prosa – zum Beispiel darauf, keine zu langen Schachtelsätze zu bauen –, führe andererseits aber auch dazu, dass Poetry Slam-Texte häufig eben nicht abgedruckt als Buch funktionieren, »weil dann die Stimmung und die Performance dazu fehlen«. Dies werde dem Genre manchmal auch angekreidet, allerdings, wie Elias Hirschl meint, zu Unrecht, da eben die Performance im Vordergrund stehe und man Texte, die nicht zum Lesen geschrieben worden seien, nicht nach ihrer Lesbarkeit bewerten dürfe.
Dennoch ist Poetry Slam nicht gleich Poetry Slam. Die Texte können immens verschieden sein, wobei sich gewisse Unterschiede im Stil auch regional erklären lassen, da die Regeln für die Wettbewerbe von Land zu Land differieren. So habe es im Geburtsland des Poetry Slam, den USA, in den 80er Jahren ein Zeitlimit von drei bis fünf Minuten gegeben; die Texte seien sehr lyriklastig und nahe am Hip-Hop gewesen. Eine ähnliche Zeitbegrenzung existiere heute etwa in Italien, wo es außerdem selbstverständlich sei, auswendig vorzutragen. Dies beeinflusse den Stil natürlich sehr, da man sich kürzere, rhythmische Texte viel besser merken könne. Im Gegensatz dazu habe man zum Beispiel in Tschechien gar kein Zeitlimit bzw. grundsätzlich nicht so klare Regeln, was dazu führe, dass viele Teilnehmer*innen auf der Bühne radikal improvisieren. In Deutschland, wo Poetry Slam derzeit einen sehr viel größeren ‚Hype‘ erlebe als in den meisten anderen Ländern, ist das Limit auf bis zu sechs Minuten ausgeweitet worden, weshalb auch längere Erzähltexte und Kurzgeschichten gelesen werden können. Zwar gebe es auch eher lyrische Texte, durchgesetzt habe sich dort aber vor allem der Stil des humoristischen Storytellings, das fast ins Kabarett gehe. Als Grund hierfür sieht Elias Hirschl die Tatsache, dass diese Spielart beim Publikum besonders beliebt sei:
»Ich habe das Gefühl, Poetry Slam ist in Deutschland schon so groß geworden, dass sich alle daran orientieren, was total gut funktioniert. Das hat zur Folge, dass man bei den deutschsprachigen Meisterschaften dann im Finale fünf, sechs Leute hat, die alle ähnliche Texte machen.«
In Österreich und der Schweiz werde, so Elias Hirschl, noch mehr mit der Form experimentiert – etwa von Valerio Moser, der auf der Bühne akrobatische Auftritte absolviere, oder von Lara Stoll, die zum Beispiel einen Text habe, der ausschließlich aus den Worten »deine Mutter« besteht (und folgerichtig auch so heißt). Erwähnt werden kann in diesem Zusammenhang auch der Text »Als Anna Clara traf« von Elias Hirschl selbst, in dem außer dem ‚a‘ kein einziger anderer Vokal zu finden ist.
In vielen Ländern – etwa in Österreich, in Luxemburg oder der Schweiz – gibt es nationale Meisterschaften in unterschiedlichen Größenordnungen. Interessant ist, dass in Deutschland keine eigenen deutschen Meisterschaften ausgetragen werden; stattdessen gibt es die übergeordneten deutschsprachigen Meisterschaften, bei denen auch Teilnehmer*innen aus den anderen deutschsprachigen Ländern antreten dürfen. Zwar stammen bei diesem Wettbewerb rund 80% der Partizipiant*innen aus Deutschland, dennoch sei es dort durch die Größe der Szene sicherlich stressiger, einen Startplatz zu bekommen. Wer teilnehmen dürfe, werde in unserem Nachbarland nicht nur durch Vorausscheide auf Bundesebene entschieden, sondern auch aufgrund unterschiedlicher anderer Kriterien bestimmt; so werde sogar von dem Mathematiker und Poetry Slammer Arne Poeck mithilfe eines mathematischen Systems berechnet, wer nominierungsberechtigt sei. Im Gegensatz dazu gebe es in Österreich seit Jahren acht oder neun Plätze, die besetzt werden dürfen – »und dann finden sich da Leute.«
Insgesamt sei die Veranstaltung, bei der man neben dem Einzel- auch im Teamwettbewerb antreten könne, mittlerweile aber so groß, dass die dritte Disziplin, die U20-Meisterschaft, gesondert veranstaltet werde: »Man kann sich«, so Elias Hirschl, »die deutschsprachigen Meisterschaften ein bisschen vorstellen wie die Frankfurter Buchmesse für Autorinnen und Autoren – ein riesiges Klassentreffen, wo alle aus dem ganzen Sprachraum hinfahren.« Einen entscheidenden Unterschied zur Frankfurter Buchmesse gibt es jedoch: Der Austragungsort ist jedes Mal ein anderer. Bisher wurden die deutschsprachigen Meisterschaften immer in Deutschland oder der Schweiz abgehalten, das werde sich aber, wie Elias Hirschl uns verrät, nächstes Jahr ändern, denn die Meisterschaften kommen nach Wien! Der Verein FOMP (https://fomp.eu/), der diverse Veranstaltungsreihen mit unterschiedlichsten Konzepten in Wien und Niederösterreich organisiert – u.a. Poetry Slams, ›Powerpoint-Karaoke‹ oder ›Lesen für Spritzwein‹ –, werde die im Oktober bzw. November 2022 stattfindende Veranstaltung betreuen. Wo der Wettbewerb ausgetragen wird, sei gerade in Planung. Man darf auf jeden Fall gespannt sein
Über die an eine Sprache gebundenen Meisterschaften hinaus existieren noch Europäische Meisterschaften, deren Konzept ein bisschen an den Songcontest erinnert: Pro Land werde eine Person geschickt – im Falle Österreichs zumeist jene, welche die Österreichischen Meisterschaften gewonnen habe; allgemeine Vorgaben gebe es hinsichtlich der Teilnehmer*innen-Auswahl allerdings keine. Im Gegensatz zum Songcontest können sich die Länder selbst dafür bewerben, die Veranstaltung zu organisieren, wobei vor allem Belgien, Portugal und Estland bisher sehr ambitioniert gewesen seien. Im zuletzt genannten Land fanden auch die Europäischen Meisterschaften 2015 statt. Hier schließt sich nun auch der Kreis zum Beginn unseres Beitrags, denn bei eben dieser Veranstaltung habe der damalige österreichische Teilnehmer Elias Hirschl den für Italien antretenden Simone Savogin kennengelernt, der nun im Rahmen der »Internationalen Literaturdialoge« zu seinem Projektpartner geworden ist.
IF YOU DON’T UNDERSTAND THE POEM, FEEL IT
Elias Hirschl sei, wie er uns erzählt, auch außerhalb der Meisterschaften schon häufiger bei internationalen Poetry Slams eingeladen gewesen, die – in unterschiedlichen Größenordnungen – teilweise auch mit Beteiligung von Kulturforen und Botschaften zustande kommen. Besonders Tschechien, die Slowakei, Polen und Slowenien seien, so seine Wahrnehmung, über die Sprachen hinweg sehr gut vernetzt; hier finde viel Austausch statt.
Er selbst bedauere, dass es in Österreich bisher keine mehrsprachigen Veranstaltungen gebe, denn immer wenn Gäste aus dem Ausland auftreten, dann Personen aus Deutschland oder der Schweiz, deren Texte man nicht übersetzen und untertiteln müsse. Dies sei für ihn ein Anstoß gewesen, das bei den »Internationalen Literaturdialogen« eingereichte Projekt zu starten:
»Ich habe es so schade gefunden, dass das im deutschsprachigen Raum gar nicht gemacht wird, obwohl es ansonsten total üblich ist. Es ist bedauerlich, wenn man davon ausgeht, dass das deutschsprachige Publikum nichts anfangen kann mit anderen Sprachen. Das wollten wir mit diesem Projekt ein bisschen aufbrechen.«
Natürlich sei das Mitlesen der Untertitel bei fremdsprachigen Texten für die Zuseher*innen fordernd, besonders wenn es sich um sehr rhythmische, sehr musikalische Texte handle. Aus diesem Grund falle im Kontext von mehrsprachigen Veranstaltungen immer wieder der schöne Satz »If you don’t understand the poem, feel it«. Manchmal finde er es aber auch unabhängig davon spannend, sich die Sprachen anzuhören, »einfach, weil es supercoole Sprachen gibt«, erzählt uns Elias Hirschl. Eine für ihn diesbezüglich besonders interessante Erfahrung auf einem Literaturfestival vor ein paar Jahren sei die Lesung eines Lyrikers aus Bilbao gewesen, der Baskisch gesprochen habe – eine Sprache, die genetisch mit keiner anderen Sprache verwandt ist.
Die Frage, ob Poetry Slam ähnlich wie fremdsprachige Musik auch funktioniert, ohne den Inhalt zu verstehen, muss jede/r für sich selbst beantworten. Die Texte der acht Autor*innen, die ab heute im Wochenrhythmus auf einem eigens dafür eingerichteten Youtube-Kanal veröffentlicht werden, laden einerseits ein, es auszuprobieren. Andererseits gibt es aber auch die Möglichkeit, sich die Übersetzung anzuschauen – nicht nur über die Untertitel bei Youtube, sondern auch auf dem zugehörigen Blog https://behindmywindow.wordpress.com/, wo die Texte als Schriftfassung bereitgestellt werden und somit – je nach persönlicher Vorliebe – vor, bei oder nach dem Schauen der Videos durchgelesen werden können. Hierbei sei es das Ziel gewesen, die Texte jeweils in zwei Sprachen nebeneinanderzustellen; zumeist in der Muttersprache der Slammer*innen und zusätzlich auf Englisch. Eine Ausnahme bilden die Texte des Schotten Miko Berry sowie des litauischen Kooperationspartners Marius Martynenko, welche schon auf Englisch verfasst wurden und, um trotzdem einen Vergleich bieten zu können, ins Deutsche übersetzt werden.
DRAUSSEN HINTERM FENSTER: TEXTE ÜBER DIE PANDEMIE
Als thematischen Ansatzpunkt des Projekts hat Elias Hirschl den Titel eines Liedes der Band Element of Crime gewählt, in welchem Dinge beschrieben werden, die »hinter dem Fenster« passieren, denn: »Ich fand das einen sehr schönen Ausgangspunkt für Texte über die Pandemie bzw. über unsere individuellen Erfahrungen in den letzten eineinhalb Jahren«. Zudem sei es spannend, Perspektiven aus acht verschiedenen Ländern – Italien, Spanien, Tschechien, Litauen, Schottland, Polen, Deutschland und Österreich – zu erhalten, in denen die Pandemie vermutlich sehr unterschiedlich wahrgenommen worden sei. Natürlich müssen die Slammer*innen sich aber, wie unser Gesprächspartner ausführt, nicht streng an die inhaltlichen Vorgaben halten, sondern können das Thema auf eigene Weise interpretieren.
Ein Kriterium bei der Auswahl der Kooperationspartner*innen sei es gewesen, eher jüngere Autor*innen auszusuchen – weswegen fast alle unter 30 seien – sowie, eine ungefähre 50/50-prozentige Männer-Frauen-Quote einzuhalten. Besonders ging es Elias Hirschl und Simone Savogin aber darum, Personen mit ganz unterschiedlichen Zugängen zu wählen. So verfasse etwa die polnische Poetry Slammerin Rudka Zydel aktivistische, feministische Texte, während die in Deutschland ansässige Autorin Tanasgol Sabbagh sehr sprachmächtige, ruhige, aber trotzdem fesselnde Texte performe. Gerade bei den deutschsprachigen Vertreter*innen sei es ihm, so Elias Hirschl, ein Anliegen gewesen, den Fokus auf ruhige, lyriklastige Texte zu legen, »weil diese ansonsten eher unterschätzt werden und bei den Meisterschaften leicht durchrutschen.«
Einige der nichtdeutschsprachigen Autor*innen kenne er von den Europäischen Meisterschaften oder weil sie einmal eine Landesmeisterschaft gewonnen haben, auf manche der Slammer*innen, die von Simone Savogin ins Boot geholt worden seien und die aus Szenen stammen, in denen er sich nicht auskenne, sei er allerdings selbst schon sehr gespannt.
Was er grundsätzlich mit diesem Projekt erreichen wolle? – Er finde es, erklärt uns Elias Hirschl, wichtig, sichtbar zu machen, dass es Personen aus ganz Europa gebe, die man in Österreich einladen könne – nicht nur in der Poetry Slam-Szene, sondern in der österreichischen Literaturszene generell. Zwar existieren schon interessante Austauschprojekte, wie etwa die von Giovanni Sampaolo und Elke Atzler herausgegebene dreibändige Anthologie »QUARANTADUE scrittrici e scrittori dell’Austria di oggi« (Editoriale Artemide), für die italienische Student*innen unter Anleitung ihrer Professor*innen österreichische Texte übersetzt hätten, ein solcher Austausch müsse aber noch weiter gefördert werden:
»Ich finde es toll, dass so etwas nun immer mehr der Fall ist – wenn es noch weiter in diese Richtung geht, das wäre super. Ich würde mir wünschen, dass es mehr solche Kooperationen gibt. Das Projekt ist ein Schritt auf diesem Weg und eine coole Möglichkeit, Leute einzuladen, die ansonsten vielleicht nicht in Österreich gehört worden wären.«