Das Schwarze Meer ist hellgrün und weiß beglitzert und beschäumt. Schwarz sind dagegen die Gewitterwolken, die sich in die Höhe schrauben wie ein Zikkurat.
Um drei Uhr morgens waren wir aus dem Schlaf gerissen worden, als unsere Handys bislang unbekannte Alarmtöne von sich gaben. »Extremer Hinweis«, stand da, »weather alert!«. Wir sollten umgehend Schutz suchen und keinesfalls ins Freie gehen. Da wir im Bett lagen, hatten wir dieser Empfehlung unwissentlich bereits Folge geleistet. Vor dem Fenster peitschte der Regen und heulte der Sturm.
Später erzählte man uns, dass in Siebenbürgischen Dörfern derlei Warnungen auch ertönen, wenn ein Bär in der Nähe ist. Ich bin mir sicher, dass es in Österreich heftige Proteste gäbe, würde man ein solches Warnsystem einführen, vor meinem geistigen Auge sehe ich die Demonstrationen. »Wir wollen keinen Staat – das Handy ist privat!«, oder etwas in der Art würde man skandieren.
»Ich fahre nach Constanţa«, hatte ich einige Wochen zuvor zu einem Freund gesagt. Er sei gerade dort gewesen, ungeplant, erwiderte er. Am Ende einer Donaukreuzfahrt musste aufgrund des Krieges in der Ukraine der übliche Halt in Odessa abgesagt werden und man sei stattdessen in Constanţa an Land gegangen. Es sei unheimlich gewesen, Kriegsschiffe habe man gesehen und über dem Meer Detonationen gehört. Jetzt, im September 2022, sind keine Kriegsschiffe da, vielmehr herrscht spätsaisonale Urlaubsstimmung. Familien mit Kindern strömen zum Aquarium, an der Strandpromenade werden Selfies gemacht, die Gastgärten sind voll. Das berühmte Art-Deco-Casino ist eingerüstet, es soll in seinen Zustand von 1910 zurückversetzt werden. Mit dem neuen schneeweißen Anstrich leuchtet es wie Windgebäck.
Ob wir den Ausflug nach Mihail Kogălniceanu machen können, ist zunächst unklar, es liegt dort eine NATO-Basis und der Weg ist zeitweise gesperrt. Der Krieg atmet seinen schrecklichen Atem hinter einer unsichtbaren Wand am Horizont, auch wenn man nur Sturm und Wellen und Möwenschreie hört.
Schließlich fahren wir nach Histria. Seit meiner Kindheit bin ich an zahllosen archäologischen Stätten gewesen, jedoch nie an einer ohne Touristen. Auch das Museum haben wir für uns allein. Trotz der bedeutenden Kunstschätze keine Reisebusse, Time Slots, Imbissstände. Vor dem Gebäude pflücken wir Früchte von einem Baum, die man in Österreich Ringlotten nennt. In Siebenbürgen heißen sie, wie ich erfahre, Marillen.
Skythen, Makedonier, Griechen, Römer haben hier gelebt. Der Wind streicht über ihre Mauern, Kräuter wachsen aus ihren Straßen. Bunte Flechten schwärmen auf den Zyklopensteinen aus. Das Schneckenkapitell einer Säule ragt in den blitzblauen Himmel und wird von Wolkenschnecken gespiegelt. Ein Hundepärchen schlendert herum. Sie ist extrovertiert und beschnuppert die Besucher, er bleibt im Hintergrund und passt auf. Nach einer Weile legen sie sich ins hohe Gras, um zu ruhen. Ab und zu taucht der Kopf des Rüden auf, der sorgfältig die Umgebung nach Gefahren absucht.
Dann sehen wir doch noch andere Menschen. Zwei junge Frauen hocken im Gebüsch, beobachten etwas am Boden und machen Notizen. Es sieht nach biologischer Feldforschung aus. Schon entdecken auch wir zwei Exemplare der in den antiken Ruinen lebenden seltenen Spezies: Maurische Landschildkröten. Gäbe es hier nennenswerten Tourismus, würde man sie wohl einsperren und in einem Gehege zur Schau stellen.
Wir erhalten die Erlaubnis, nach Mihail Kogălniceanu zu fahren. Auf dem Weg dorthin kommen wir durch ein Dorf, durch das eine unbefestigte Sandstraße führt. Ein Leiterwagen, der von einem Pferd gezogen wird, erzeugt Staubwolken. Kinder sitzen darauf und winken uns zu. Die Straße ist gesäumt von niedrigen, bunt bemalten Häuschen mit blühenden Vorgärten, wo alte Frauen sitzen und das Wenige, das geschieht, beobachten. Es sieht aus wie ein Idyll von alten Gemälden.
Schließlich fahren wir an dem NATO-Stützpunkt vorbei. Er wirkt verlassen. Keine Menschen, keine Fahrzeuge sind zu sehen. Nur ein einsames militärisches Transportflugzeug steht vor den Hangars. Die Grenze zur Ukraine ist vierzig Kilometer entfernt.
Mihail Kogălniceanu ist eine Gemeinde, die exakt so heißt wie ein Politiker des 19. Jahrhunderts, es ist, als würde man in Österreich einen Ort »Viktor Adler« nennen. Hier besichtigen wir die ehemalige deutsche Kirche. An der Wand finde ich eine Inschrift: »1898. Ferdinand Stuflesser, Bildhauer in St. Ulrich, Gröden, Tirol, Austria.« Unter anderem stammt eine Statue des Hlg. Franz von Assisi aus der Werkstatt des Grödner Künstlers. Die Geschichte der Dobrutscha-Deutschen dauerte nur etwa hundert Jahre lang. Aus dem russischen Kaiserreich stammend, hatten sie sich ab 1841 hier aus wirtschaftlichen Gründen angesiedelt, mit dem Ende des 2. Weltkrieges kamen Vertreibung und Flucht. Der Priester erzählt, dass nur mehr eine einzige Frau mit schwäbischen Wurzeln hier lebe, sie sei sehr alt und sehr krank. Aber auch seine rumänische Gemeinde schrumpfe stetig. Erst vor wenigen Wochen seien vier Familien, insgesamt zwanzig Personen, nach Spanien emigriert. So wie einst die Deutschen auf der Suche nach einem besseren Leben hierhergezogen waren, so ziehen nun die Rumänen mit demselben Wunsch fort. »Es ist traurig«, sagt er.
Abends, zurück in Constanţa, gehen wir an den Strand. Bis in die 1920er Jahre hatte sich im heutigen Stadtteil Mamaia ein türkisches Fischerdorf befunden, dann ließ der rumänische König dort eine Strandvilla für sich errichten und die Entwicklung zum Badeort begann. Es ist windig und kühl, die Menschen haben sich in den Schutz der Hotelrestaurants zurückgezogen. In einer kleinen Grünanlage fällt mir ein schöner schwarzer Straßenhund auf, der dort Zeit mit seinen Freunden verbringt. Dann läuft er über die breite Sandfläche vor bis zur Brandung, scharrt ein Loch, in das Wasser hineinläuft, und schaut nach getaner Arbeit aufs Meer.
Der Text entstand im Rahmen der Reihe ›Begegnungen – Eine literarische Reise österreichischer Autor*innen durch Rumänien‹ vom Österreichischen Kulturforum Bukarest.