Daniel Kehlmann hat es bereits gemacht. Nun wird Stefan Kutzenberger es auch tun: Wie sein prominenter Vorgänger wird er sich auf eine Reise in den Silicon Valley begeben, um dort ein Projekt zu verfolgen, welches künstliche Intelligenz mit künstlerischem Schaffen verbindet. Eine Gemeinschaftsarbeit mit einer KI, deren Ergebnis ungewiss ist. Das Spannende daran? Eben das.
DANIEL KEHLMANNS ALGORITHMUS
Wie Daniel Kehlmann in seinem erst vor wenigen Monaten erschienenen Buch »Mein Algorithmus und Ich.Stuttgarter Zukunftsrede« (Klett-Cotta, 2021) beschreibt, folgte er 2020 der Einladung des Open Austria Art and Tech Labs, im Rahmen des Projekts ›AI Storytelling‹ eine Kurzgeschichte in Zusammenarbeit mit einer KI zu verfassen, genauer gesagt mit einem prädikativen Algorithmus namens CTRL. Wie dies grundsätzlich funktioniere, erklärt der Autor anhand von einem Beispiel:
»Wenn ich Ihnen einen Text zum Übersetzen gebe, so könnten Sie diesen lesen und verstehen und in eine andere Sprache übertragen. Oder aber Sie haben wirklich viele Daten statistisch erfasst, denn in diesem Fall könnten Sie einfach eine Voraussage machen, welche Übersetzung jemand, der die Sprache – im Unterschied zu Ihnen – beherrscht, Ihnen anbieten wird. Die Daten, aufgrund derer Sie diese Voraussage machen, sind natürlich Abermillionen von Übersetzungen anderer Texte durch andere Leute (…) Aber der prädikative Algorithmus, der diese menschliche Arbeit per statistischer Auswertung nutzt, der braucht die Sprache nicht zu verstehen, er hat weder Wörterbücher noch Grammatikregeln zur Hand, und er hat keine Ahnung, was das von ihm vorgeschlagene Ergebnis bedeutet (…)«
»Mein Algorithmus und Ich«, S.9f.
Im Gegensatz zu einem Menschen, der Probleme normalerweise durch Verständnis und Einsicht löse, arbeite der Algorithmus also mit Wahrscheinlichkeitsabschätzungen, indem er – vereinfachend dargestellt – auf eine Art Meta-Wörterbuch zugreife, in welchem die statistische Wahrscheinlichkeit jedes Wortes, nach einem anderen Wort im Satz zu stehen, festgehalten ist. Der konkrete Arbeitsprozess zwischen Daniel Kehlmann und CTRL habe so ausgesehen, dass der Autor und die künstliche Intelligenz jeweils abwechselnd einen Satz zur gemeinsamen Erzählung beisteuerten – dies habe bei den ersten paar Sätzen immer erstaunlich gut funktioniert, nach zwei bis drei Absätzen sei die Story dann aber immer zu Ende gewesen: »Irgendwann stürzt CTRL die innere Logik ab, und der Text zerrinnt auf eigentümlich dadaistische Weise.« (S.26f.)
Daniel Kehlmanns Conclusio: Die Angst, man benötige keine Schriftsteller*innen mehr, weil Maschinen Ähnliches leisten können, sei unbegründet. CTRLs große Schwäche sei das Erzählen, das Schaffen einer narrativen Konsistenz, eines Plots. Was aber, so Stefan Kutzenbergers Schlussfolgerung, auch bedeuten könne, dass diese Art der Literaturproduktion eher für Lyrik geeignet sei. Schon während seiner Lektüre von »Mein Algorithmus und Ich« habe der Literaturwissenschaftler, Autor und Kurator, der durch seine Beschäftigung im Leopold Museum schon lange an der Schnittstelle zwischen Bildender Kunst und Literatur arbeitet, sofort an Egon Schiele (1890-1918) gedacht. Genauer gesagt an Egon Schieles Gedichte, von denen es häufig heiße, sie seien sehr visuell, fast textgewordene Bilder. Wenn es eine KI gibt, die imstande ist, Texte zu produzieren, vielleicht – so Stefan Kutzenbergers Idee – existiert ja auch ein Algorithmus, der Texte in Bilder umwandeln und somit Schieles Lyrik visualisieren kann?
DIE KÜNSTLICHE INTELLIGENZ ALS ILLUSTRATOR
Eine solche KI wurde tatsächlich erst vor wenigen Monaten von dem Forschungslabor OpenAI veröffentlicht und ihr Name ist DALL-E. Wie CTRL »wohnt« DALL-E im Silicon Valley; der Zugang erfolgt ebenso wie bei Daniel Kehlmanns Projekt über das Open Austria Art and Tech Lab. Es sei, wie Stefan Kutzenberger uns erzählt, »unglaublich, was das Ding kann«: Indem die KI auf Google – die größte Bilddatenbank der Welt – zugreife, habe sie das gesamte momentane visuelle Wissen der Menschheit zur Verfügung. Mithilfe von diesem kreiere DALL-E Bilder aus Textfragmenten, wobei sie aber auch assoziativ denken könne. Das bedeutet, dass sie sogar solche Metaphern, die schwer vorstellbar seien, so ins Visuelle übersetze, dass die entstehenden Bilder alle Informationen beinhalten und auch wieder Sinn ergeben. Er habe, so Stefan Kutzenberger, etwa ein Beispielbild gesehen, bei dem durch eine entsprechende Textzeile dann ein Foto von einem Sofa in Form einer Avocado ausgespuckt worden sei. Wie DALL-E allerdings mit den wirklich schwer zu lesenden Gedichten Schieles umgehen werde, zeige sich erst im Herbst, wenn Stefan Kutzenberger den Zugang zur KI erhalte.
Bevor es allerdings soweit ist, muss ohnehin Einiges erledigt werden: Auf die Sammlung der etwa 40-50 greifbaren Gedichte – die zwar durchaus publiziert sind, aber in keiner Gesamtausgabe aufliegen – folg(t)en die Sichtung, Vorauswahl und Übersetzung ausgewählter Gedichtverse ins Englische, die Arbeitssprache DALL-Es. Letzteres sei besonders schwierig, denn da die Sprache Schieles sehr bedeutungsoffen sei, stoße man an die Grenzen des Übersetzens: »Wenn man versucht, Schiele zu übersetzen, merkt man stark, dass jede Übersetzung eine Interpretation ist«, so Stefan Kutzenberger. Ein weiterer Schritt ist es, Zwischentexte zu verfassen, die den Bogen zwischen Schieles Verszeilen spannen werden. Dies sei, da voraussichtlich Verse unterschiedlicher Gedichte Schieles kombiniert werden, notwendig, damit alles Sinn ergebe. In diese Textübergänge möchte Stefan Kutzenberger möglichst viele Lehnwörter aus dem Deutschen – z.B. doppelganger, weltschmerz – verwenden, um DALL-E an ihre Grenzen zu bringen und zu sehen, wie sie abstrakte Begriffe darstellen werde.
Grundsätzlich gehe er davon aus, dass es pro Verszeile ein Bild geben werde, da ein mehrzeiliges Gedicht so viel beinhalte, dass es schwer vorstellbar sei, alles in einem Bild zu fassen. Es sei aber sein Plan, vor Ort möglichst viel zu experimentieren, etwa auch mit ganzen Gedichten Schieles oder mit schwierigen Verszeilen, die es als Hilfestellung an DALL-E eigentlich nicht in die Vorauswahl geschafft haben. Es werde sich zeigen, was schlussendlich möglich sei, man könne sich nur herantasten. Im schlimmsten Fall sei das Ergebnis, dass eben herauskomme, dass Schieles Bildwelten nicht durch eine KI kreierbar seien: »Ein Experiment, das schief geht«, so Stefan Kutzenberger, »wäre auch kein Beinbruch, sondern genauso eine Aussage.« Sollte das Projekt aber gelingen, ist eine Ausstellung geplant – in San Francisco, vielleicht aber auch in Wien.
SCHIELES LYRISCHE BILDWELTEN
Dass Egon Schiele in den Jahren 1910 und 1911 auch expressionistische Lyrik verfasste, sei zwar in Kunstgeschichte-Kreisen bekannt, aber nur selten das Sujet (literatur)wissenschaftlicher Beschäftigung. »Es war eine kurze Phase, in der ihm das Malen, das Zeichnen nicht genug Ausdruck war, in der er noch ein Ventil brauchte, um seine innere Welt mitteilen zu können,« erklärt Stefan Kutzenberger. Zwar seien seine Gedichte damals in expressionistischen Zeitschriften veröffentlicht worden, er selbst sei aber eine Randfigur bei einem Randthema geblieben und nie groß als Lyriker rezipiert worden. Dennoch sei sein Werk auf einem Niveau mit den Schriftstellern der Zeit gewesen – »kein Dilettantismus, sondern ernstzunehmende Lyrik, die sehr bildgewaltig, farbgewaltig ist.« Für Egon Schiele war »die Welt ein Bild, visuell erfahrbar«. Das merke man einerseits an den Gedichten, denn die Wiesen, Seen und Wälder, die er beschreibe, könne man sich vorstellen; eigentlich seien es Gemälde. Andererseits werde es auch dadurch deutlich, dass der Künstler jeden schriftlichen Ausdruck gleichzeitig auch »als Designentwurf«, als ein kalligraphisches Kunstwerk gestaltete, nicht nur die Gedichte – die heute teilweise gerahmt in Museen hängen –, sondern zum Beispiel auch seine Briefe, bei denen er ebenso mit unterschiedlichen Schriften und Farben arbeitete.
Auffallend und in Zusammenhang mit Stefan Kutzenbergers Projekt auch schade ist, dass Egon Schiele wohl das Naheliegende unterließ und selbst nie eines seiner Gedichte illustrierte. Dennoch wäre die Frage, inwieweit DALL-Es Kreationen sich von denen menschlicher Illustrator*innen unterscheiden, eine spannende. Könnte die KI es schaffen, Schieles schwer nachvollziehbare Wortassoziationen besser in Bilder zu fassen als ein menschliches Pendant? Sollte die Arbeit mit der künstlichen Intelligenz erfolgreich sein, kann sich Stefan Kutzenberger gut vorstellen, diese Fragestellung in einem zweiten Teil des Experiments zu erforschen: »Noch ist alles ein bisschen vage, aber ich denke und hoffe, dass sich, sobald ich den Zugang habe, ergeben wird, in welche Richtung die Reise geht.«