1990, als ich neun Jahre alt war, emigrierte meine Familie und ich aus der damaligen Tschechoslowakei nach Österreich. Seitdem sind mehr als dreißig Jahre vergangen und dennoch, wann immer ich osteuropäischen Boden betrete, fühle ich vertrautes Terrain. So auch dieses Mal. Ich möchte denken, dass meine eigene Heimat nicht so weit entfernt liegt, als ich in Cluj ankomme. Es ist mein erster Reflex. Aber das stimmt nicht. Zwischen Slowakei und Rumänien liegt ein ganzes Land, Ungarn, und das ist genauso wenig slawisch wie Rumänien. Und doch bleiben meine Augen zunächst an all den Ähnlichkeiten hängen, ganz besonders im traditionellen Restaurant, in dem wir zu Abend essen und ich die rumänischen Spezialitäten probieren will, von denen ich gehört habe, dass sie köstlich sein sollen. Von der in dunklem Holz gehaltenen rustikalen Einrichtung mit den karierten Tischdecken, über die zur Dekoration an den Wänden hängenden Teller bis zu den nationalen Trachten erkenne ich alles wieder. Es sieht einem slowakischen Restaurant wirklich zum Verwechseln ähnlich. Ich möchte mich entspannen, fühle mich fast schon zuhause, obwohl das Essen sich dann doch von den Gerichten meiner Kindheit unterscheidet.
Doch außerhalb dieses Restaurants und abseits der rumänischen Tradition, draußen in den Straßen, begegnet Cluj mir als absolut einzigartig. Das Leben, das dort pulsiert, ist jung, offen und gelassen, an jeder Ecke begegne ich Student:innen, sehe moderne Cafés, verschiedene Flaggen an internationalen Instituten. Man spürt sofort, in dieser Stadt tut sich was Neues auf, hier fürchtet man Veränderung nicht, hier sehnt man die Zukunft herbei. Es liegt so viel Zuversicht und Hoffnung in der Luft, als erfinde sich die Stadt in jedem Moment neu, als wäre alles möglich, als wäre man selbst (wieder) jung und alles liege noch vor einem.
Und dabei gibt es sehr wohl auch viel Geschichte zu entdecken: barocke Hausfassaden, mittelalterliche Türme mitsamt Stadtmauer, Kirchen in gotischem Stil. Manche winzigen Gassen der weitgehend erhaltenen Altstadt wirken so still und vergessen, dass man fast nicht glauben kann, mitten in der Stadt zu sein. Doch Plakate mit Ankündigungen über kulturelle Veranstaltungen sind nie weit, denn in Cluj ist immer was los.
Alte und die neue Kunst bestehen hier ganz selbstverständlich nebeneinander -neben klassischen Theaterstücken und Oper kann man Iggy Pop sehen, vor den Kulissen der Altstadt zahlreiche moderne Musik- und Filmfestivals besuchen. Cluj hat eine Schwäche für das Schöne, die Kunst und die Vielfalt. Neben dem rumänischen Theater gibt es auch das ungarische und neben rumänischen und ungarischen Schulen gibt es auch deutsche. Multikulturalismus und Mehrsprachigkeit werden hier ganz selbstverständlich im Alltag gelebt. Cluj ist neugierig und interessiert sich für die Welt und ist selbst auch interessant.
Zwischendurch tauchen im Stadtbild immer wieder auch klassisch kommunistische Bauten auf und erinnern unmissverständlich daran, dass wir hier in Osteuropa sind, aber als Besucher könnte man in dieser Stadt glauben, die Wende sei noch nicht so lange her, denn hier herrscht Aufbruchstimmung. Die vielen Start-Ups, die internationalen Student:innen, die kulturellen Events, in Cluj hat man immer das Gefühl, gleich geht´s los. Man wartet nicht auf bessere Zeiten, sondern gestaltet die Zukunft aktiv mit, und der Fakt, dass diese Mitgestaltung möglich ist, wird dabei nie unterschätzt oder als selbstverständlich erachtet, denn, das weiß man hier und hat es erfahren -es gab auch eine ganz andere Zeit.
In persönlichen Gesprächen erfahre ich mehr über die Zeit des Kommunismus, der diese Stadt und das Land noch strenger und gnadenloser regierte als mein eigenes Heimatland oder etwa Ungarn, in dem man ja bis heute eher von einer Art Gulasch-Kommunismus spricht. In Cluj höre ich Geschichten über Mangel, über Hunger, über die Unmöglichkeit der Dinge. Über die Enge, in der zu leben man gezwungen wurde, über das Verbot von ganz einfachen Freizeitaktivitäten, ja sogar dem Verbot, sich in Gruppen zu treffen, sei es auch nur zum Wandern. Diese Zeit war lang und karg, das Ende blutig. Und diese Dinge bleiben, so empfinde ich das immer beim Reisen, in die Landschaft, die Architektur, in die Gesichter der älteren Bevölkerung gemeißelt. Wie immer in Osteuropa habe ich das Gefühl, dieser Teil der Geschichte gehe mich persönlich etwas an und diese Erzählungen von der kommunistischen Diktatur greifen mitten in mich hinein. Ich fühle mich angesprochen, mitgemeint, aber vor allem spüre ich, wie schmal der Grat ist, auf dem wir uns hier bewegen: Auf der einen Seite gilt es, nie zu vergessen, dass es diese Zeit gegeben hat und die Kluft, die der Eiserne Vorhang in Europa hinterließ, noch lange nicht geschlossen ist. Auf der anderen Seite gilt es, gelassen und zuversichtlich in die Zukunft sehen zu können, ohne sich von den Wunden der Vergangenheit den Blick verstellen zu lassen. Genau das ist ein Spagat, den Cluj auf faszinierende Weise und mit so viel Leichtigkeit und Freundlichkeit schafft, wie keine andere Stadt, die ich bis jetzt besucht habe.
Als ich nach Hause fliege, fühle ich mich jedenfalls optimistisch, inspiriert, habe neue Ideen und Perspektiven gewonnen, auf Rumänien, auf uns als europäische Familie, auf mich selbst.
Als wüsste ich nun wieder, was zu tun ist.
Der Text entstand im Rahmen der Reihe ›Begegenungen – Eine literarische Reise österreichischer Autor*innen durch Rumänien‹ vom Österreichischen Kulturforum Bukarest.