Eigentlich hatte Petra Nagenkögel geplant, 2020 viel unterwegs zu sein. Für ein Buchprojekt wollte sie europäische Außengrenzen abfahren, etwa jene zwischen Finnland und Russland, ein Stück den ehemaligen Eisernen Vorhang entlang. Dann kam Corona und die einzig möglichen für sie zu besuchenden Grenzen wurden jene zu Ungarn, Tschechien und der Slowakei. Wo sie eine schon lange nicht mehr gemachte Erfahrung erlebte: vor einer Ländergrenze zu stehen und nicht in das jeweils andere Land einreisen zu dürfen.
Als sie dann von der Ausschreibung der ›Internationalen Literaturdialoge‹ erfuhr, beschloss sie, ihr Projekt zu öffnen und es gemeinsam mit Schriftsteller*innen weiterzuverfolgen, die mit verschiedenen Herangehensweisen von ganz anderen geografischen Standorten auf dieses Thema schauen. Sehr schnell gedacht habe sie hierbei an ihren Hauptkooperationspartner Tom Schulz. Seine Arbeit schätze sie sehr, wie sie uns im Gespräch erzählt:
»Wir haben ähnliche Zugänge zu dem, was Literatur sein kann, sein soll. Wir treffen uns auf ästhetischer Ebene, aber auch, was den Anspruch betrifft. Wir sind ganz konservativ und glauben, dass mit Schreiben auch Verantwortung im gesellschaftspolitischen Sinn verbunden ist.«
GRENZEN – GRENZERFAHRUNGEN
Was Petra Nagenkögel und Tom Schulz ebenfalls verbindet, ist, dass die Thematik der (nationalen) Grenzen beide seit vielen Jahren, eigentlich schon seit ihrer Kindheit, beschäftige. Diese Wahrnehmung, »dass es ein Hier und ein Dort gibt, ein Herüben und ein Drüben, die einen, die natürlich immer gut sind, und die bösen anderen drüben«, das ist eine Erfahrung, die Petra Nagenkögel schon früh beim Verwandtschaftsbesuch im Dorf Oedt nahe der tschechoslowakischen Grenze machte. Damals habe sie dies natürlich nicht reflektiert, es habe aber »die Sehnsucht ausgelöst, wissen zu wollen, was drüben ist.« Auch sei das Thema für sie schon lange mit einer ganz großen Empörung verbunden, denn es sei schwer auszuhalten, dass jemand die Macht habe, willkürlich Grenzen aufzuziehen oder auch wieder abzubauen: »Wie kann es sein, dass Menschen verordnet wird, wohin sie gehen dürfen? Manchmal ist ja nicht nur das Einreisen ein Problem sondern auch das Ausreisen, wenn man etwa an die Länder hinter dem ehemaligen Eisernen Vorhang denkt.«
Dieses »Drüben« kennt Tom Schulz, der in der DDR aufwuchs. In seinem Leben spielte das Thema der Grenze schon immer eine große Rolle – »eine viel zu bedeutende Rolle, fürchte ich.« Er habe sich schon seit seiner Kindheit in Ostberlin für die Thematik interessiert und sich auch mehrfach literarisch damit befasst, etwa in seinem Buch »Das Wunder von Sadagora« (edition azur, 2016), welches eine polnisch-ukrainische Reise durch Schlesien – von Krakau über Warschau und Lemberg bis an die Ostsee – beschreibt.
Auch bei den weiteren, aus unterschiedlichen Ländern stammenden Autor*innen, welche die beiden für das Projekt angefragt haben, existiere ein Bezug zu dem Thema – sie alle haben besondere Grenzerfahrungen, etwa weil sie immigriert sind oder an Grenzen wohnen.
Während Petra Nagenkögel im Rahmen des Projekts ihre Reisen an österreichische Außengrenzen weiterführt, finden die Reisen von Tom Schulz »derzeit eher im Kopf statt«. Nicht nur nationale Grenzen, alle möglichen Grenzen spielen eine Rolle; das Projekt sei, so Tom Schulz, »vielfältig und divers«. Ein für Petra Nagenkögel besonders wichtiges Thema sei hierbei das Ökologische, denn: »Auch hier sind wir an einer Grenze angelangt. Diese Vorstellung, dass wir dabei sind, einen Planeten in weiten Teilen unbewohnbar zu machen, ist für mich nicht fassbar. Das Schreiben ist eine Möglichkeit, zumindest in Ansätzen einen Umgang damit zu finden und die Empörung, die Wut nach außen zu bringen.«
DER TEXT ALS KALEIDOSKOP
Das Schwierige bei diesem Projekt? – Die Unwägbarkeiten. Petra Nagenkögel und Tom Schulz wissen nicht, welche Art von Texten sie von den anderen Autor*innen erhalten werden. Essays, Gedichte, Prosa – vielleicht aber auch »die eine oder andere Überraschung.« Wie sie diese Texte zueinander, ineinander, nebeneinander bringen können? Es sei die Idee, dass es nicht um ein großes lineares Gebilde gehe, sondern dass all diese Texte kaleidoskopartig einen Ort im Ganzen einnehmen, dass man die Bruchstellen sehe. Da thematisch die Diskontinuitäten, die Brüche im Vordergrund stehen, sei es nur konsequent, dies auch im Text abzubilden, etwa durch die fremdsprachigen Texte, die zwar schon übersetzt, aber auch in Originalsprache integriert werden sollen. Wie Petra Nagenkögel ausführt, sei es da, wo wir gesellschaftlich jetzt stehen, ohnehin nicht mehr möglich, eine große Erzählung zu liefern – stattdessen seien es »Partikel von Momenten, die wir nebeneinanderstellen. Diese ergeben ein Ganzes, aber ein Ganzes, das aus Fragmenten besteht.« Diese Vielstimmigkeit, das Chorische, das Prismische seien das Ergebnis, Offenheit – so Tom Schulz – sei die Voraussetzung.
ENTGRENZUNGEN
Einerseits sei es notwendig, sich selbst nicht begrenzen zu lassen. Es wäre, wie Petra Nagenkögel meint, künstlich, zu sagen, dass eine Reflexion an einem bestimmten Punkt enden müsse, weil sie nicht mehr ins Thema passe: »Das assoziative Fortschreiben, sich assoziieren lassen, darum geht es. Auch darum, dass, wenn ich einen Text von jemandem bekomme, dieser dann auch etwas mit meinem Fortschreiben macht, dass man immer wieder neue Verknüpfungen findet.« Über das Individuelle hinaus sei aber andererseits auch die unterschiedliche Gestaltung zentral. Auf einer ästhetischen, formalen Ebene bedeute Entgrenzung die Möglichkeit, die Texte der verschiedenen Autor*innen zu verschieben, immer wieder unterschiedlich, immer wieder neu nebeneinanderzustellen. Ein jeweils anderes Gebilde sei ein Weg, Grenzen zu unterlaufen. Das Projekt könne daher nicht nur auf unterschiedliche Art und Weise bei Veranstaltungen präsentiert werden, sondern sei auch nach Ende der Projektlaufzeit offen für Erweiterung.
Diese grundsätzliche Offenheit, die das gesamte Projekt umgebe, sei das Spannende, das›AN/GRENZEN‹ so einfach mache, aber gleichermaßen auch so schwierig, denn: »Das Einfache ist immer das, was schwer zu machen ist, sagte Brecht«, so Tom Schulz.
Wir bedanken uns bei Petra Nagenkögel für einige Impressionen von den von ihr im Rahmen des Projekts schon besuchten Grenzorten.